Sollte Russland NATO-Gebiet angreifen, dann zuerst im Baltikum. Diese Sorge teilen viele Menschen in Estland, Lettland und Litauen. Ihre Angst vor russischer Aggression sitzt tief – auch, weil sie lange um ihre Unabhängigkeit kämpfen mussten.
Wie ist es, als kleines Land ein NATO-Frontstaat zu sein? Gegenüber dem Schweizer Nachrichtenportal "20 Minuten" gibt sich der estnische Außenminister Margus Tsahkna kämpferisch. "Es geht darum, Russland das aggressive Verhalten auszutreiben", sagt der 48-Jährige. Das ganze Interview im Wortlaut:
Herr Tsahkna, wie oft haben Sie in den letzten sieben Tagen an die Möglichkeit eines Krieges gegen Russland gedacht?
Wir denken nie an einen Krieg gegen Russland. Ob aber Russland bei uns einmarschieren würde, ist eine andere Frage. Wir sind eine friedliche Nation. 1920 haben wir zum ersten Mal unsere Unabhängigkeit erlangt. Wir können kämpfen, um uns zu schützen.
Wenn die Möglichkeit einer Invasion besteht, müssen Sie doch an Krieg denken?
Als ich 2016 Verteidigungsminister war, standen uns 120.000 russische Soldaten gegenüber, kampfbereit in 48 Stunden. Diese Truppen sind jetzt in der Ukraine ausgelöscht worden. Allerdings baut Russland neue Infrastruktur auf, um sie zu ersetzen – in größerem Umfang als zuvor, wahrscheinlich wegen des NATO-Beitritts von Finnland und Schweden.
Ist Estland wegen diesem NATO-Beitritt stärker bedroht?
Nein. Russland hat momentan nicht die Kraft, einen neuen Krieg zu führen. Und dazu sind wir ja nicht allein: NATO-Truppen aus Polen, den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich sind im Baltikum. Die NATO ist präsent – in der Luft, zur See, auf dem Boden. Dagegen ist Russland in der Ukraine in Schwierigkeiten.
Wieso denken Sie das?
Weil Russland keinen strategischen Durchbruch geschafft hat. Das Bild einer militärischen Supermacht stimmt nicht. Die Ukraine hat gezeigt: Man kann sich wehren. Die Russen haben einige Ländereien gewonnen und dafür Hunderttausende Menschen getötet, auch von ihren eigenen Leuten, aber dennoch haben sie keine Entscheidung erreicht. So sehen wir Russland von hier aus. Es ist gefährlich und verwundbar. Deshalb bleiben wir wachsam.
Der Ukraine-Krieg beschäftigt die Menschen in der Schweiz nicht mehr so stark. Wie ist das in Estland?
Ihr habt auch eine andere Geschichte, deswegen ist das verständlich. Wir aber haben 50 Jahre sowjetische Besatzung erlebt: Deportationen, verschleppte Kinder, Vergewaltigungen, Bombardierungen, Plünderungen. Diese Erinnerungen sind weiter lebendig. Fast 90 Prozent der Bevölkerung unterstützt deswegen die Ukraine, ein konstanter Wert seit Kriegsausbruch. Wir wissen: Die russischen Truppen richten sich gegen uns alle – und die Ukrainer kämpfen nicht nur für die Freiheit in Europa, sie kämpfen auch statt uns.
Eben das können sich viele in der Schweiz nicht vorstellen – dass Russland die NATO angreifen oder Europa bedrohen würde.
Putins Pläne sind bekannt – seit seiner Rede 2007 in München. Er will die NATO zurückdrängen, Europa spalten und ein russisches Imperium errichten. Und diese Pläne setzt er um, wie der Krieg gegen Georgien 2008, die Krim-Annexion 2014 und die Invasion 2022 belegen. Die Schweiz mag geografisch nicht an Russland angrenzen – dennoch lege ich der Schweiz nahe, Putin und seine Drohungen ernst zu nehmen. Es ist billiger, in Verteidigung und Abschreckung zu investieren, als den Preis eines Krieges zu zahlen. Die Schweiz könnte auch in die ukrainische Rüstungsindustrie investieren. Das wäre kein Waffenexport, sondern ein wirtschaftlich rentables Engagement. Neutralität heißt nicht Untätigkeit.
Kommendes Jahr stecken Sie fünf Prozent ihres BIP in die Verteidigung. Gibt es dagegen Widerstand?
Im Gegenteil. Es gab eher Kritik, dass es nicht sechs oder sieben Prozent sind. Seit dem 1. Jänner dieses Jahres haben wir zudem die "Verteidigungssteuer" eingeführt, eine Solidaritätssteuer von zwei Prozent auf das Einkommen, sogar Rentner zahlen sie. So ist das estnische Mindset. Aber es geht nicht nur um das Militärische. Wir sind die digitalste Nation der Welt, alle unsere Dienstleistungen sind online. Gleichzeitig haben wir konstante Cyberangriffe. Um ihnen standzuhalten, müssen wir investieren. Das begreifen alle in Estland. Wir leben bereits seit Jahrtausenden hier. Wir wissen nur zu gut, was normalerweise vom Osten kommt.
Wie sehen junge Esten das Militär?
Vor 20 Jahren war das Militär sehr unbeliebt – viel zu sowjetisch. Heute ist das anders. Man kann den Wehrdienst mit Freunden oder der ganzen Schulklasse leisten. Fast alle Esten sind zudem Teil der freiwilligen Defence League. Innerhalb von 24 Stunden können wir viele Reservisten mobilisieren. Ich selbst bin Mitglied – nicht nur Minister. Es geht um mehr als Waffen, sondern auch um Versorgung und Zivilschutz. Unsere Gesellschaft denkt wie Finnland: Jeder trägt Verantwortung. Wer sich nicht engagiert, wird eher kritisch gesehen, auch von den Mädchen.
Würde sich Estland an Friedenstruppen in der Ukraine beteiligen?
Das setzt zuerst Frieden voraus. Und den gibt es nicht. Russland bombardiert weiter – trotz aller Vereinbarungen. Derzeit geben wir 0,25 Prozent unseres BIP pro Jahr für die Ukraine aus und erhöhen weiter. Wir sind Teil der Koalition der Willigen. Und wir sagen klar: Die beste Sicherheitsgarantie ist die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.
Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine schließen die USA aus.
Stimmt. Aber diese Möglichkeit darf nicht vom Tisch. Die Ukraine braucht uns – und wir brauchen die Ukraine. Sie wird die erfahrenste Armee Europas haben. Ihre Mitgliedschaft stärkt ganz Europa.
Was sagen Sie zum Argument, ein NATO-Beitritt verletze russische Sicherheitsinteressen?
Das ist ein falsches Narrativ. Russland grenzt heute schon an sieben NATO-Staaten, und die NATO ist kein aggressives Bündnis. Was Putin wirklich fürchtet: Dass er die Ukraine als NATO-Mitglied in der Zukunft nicht mehr angreifen kann. Allein darum geht es.
Haben Europa oder auch Estland im Umgang mit Russland Fehler gemacht?
Zumindest nicht Estland. Wir waren konsequent und haben unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland schon früh abgebrochen, nach der Finanzkrise 1999, als estnische Unternehmen all ihr Geld in Russland verloren hatten, ohne rechtlichen Rahmen oder Unterstützung. Und wir warnten immer wieder vor Putin – 2008 nach Georgien, 2014 nach der Krim. Europa aber wollte lieber Geschäfte machen. Heute ist klar: Putin versteht nur Stärke.
Wie soll man in Zukunft mit Russland umgehen?
Wir müssen aus der Geschichte lernen. Russland bleibt auch in Zukunft eine Bedrohung. Wir müssen investieren – in Verteidigung, in die Ukraine, in Sanktionen. Russland hat ja eigentlich alles: Ressourcen, kluge Köpfe. Aber es kann nicht in Frieden leben. Das ist tragisch – vor allem für die Russinnen und Russen selbst. Wenn Europa seinen Lebensstil behalten will – auch die Schweiz –, muss es sich wehren können. Wer glaubt, nach dem Krieg gehe es weiter, wie zuvor, irrt. Russland versteht nur Pause – nicht Frieden. Das haben wir Esten gelernt.
Wagen Sie eine Prognose zum Ende des Krieges?
Wir wünschen uns einen gerechten Frieden. Klar: Es wäre gut, wenn die Ukraine Russland zurückdrängen könnte. Aber es geht nicht nur um Territorium. Es geht darum, Russland das aggressive Verhalten auszutreiben. Das geht nur mit Stärke. Dafür müssen wir zahlen – hoffentlich nur finanziell.