Politik

70-Seiten-Gutachten ortet Polizeigewalt bei Wiener Demo

Die Menschenrechts-NGO Amnesty International hat ein Gutachten erstellen lassen, um die Vorkommnisse bei einer Demo in Wien zu durchleuchten.

Leo Stempfl
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Die Polizei zog schließlich eine Sperrkette durch den gesamten Park.
Die Polizei zog schließlich eine Sperrkette durch den gesamten Park.
"Heute"

Auch knappe neun Monate nach einer samstäglichen Demonstration in Wien dauert die Aufarbeitung der Vorkommnisse weiter an. Die Darstellung von Seiten der Teilnehmer und Medien unterschied sich stark von den Erklärungen der Polizei. Um dem auf den Grund zu gehen, gab die Menschenrechts-Organisation Amnesty International ein Gutachten in Auftrag.

Dieses ist ganze 70 Seiten stark, wurde am Mittwoch präsentiert und behandelt die "(sicherheits-)behördliche Aufarbeitung des Polizeieinsatzes bei der 'Mayday-Demonstration' am 1. Mai 2021 im Wiener Votivpark im Hinblick auf Erfordernisse des Misshandlungsverbotes und des Schutzes der Versammlungsfreiheit". Erstellt hat es der bekannte Menschenrechtsexperte Philipp Sonderegger, der sich in seiner Rekonstruktion auch auf einige Berichte und Beobachtungen von "Heute" stützt.

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    Die Demonstration beim Eintreffen am Votivpark
    Die Demonstration beim Eintreffen am Votivpark
    Leo Stempfl

    Zur Vorgeschichte

    An jenem 1. Mai finden traditionell sozialistische Aufmärsche statt, das Fest der SPÖ wurde wegen der Pandemie aber abgesagt. Bereits seit den 2000er Jahren veranstalten an jenem Tag aber auch andere linke Bündnisse Demonstrationen gegen Kapitalismus und soziale Ungleichheit. 2021 zog man von Ottakring zur Abschlusskundgebung im Votivpark.

    Dort angekommen, gab es Reden, auch zahlreiche unbeteiligte Personen saßen im Park. Das Aufhängen eines Banners am Gerüst der Votivkirche sorgte für erhöhte Polizeipräsenz, darunter mischten sich auch Zivilbeamte. Diese waren zuvor bei einer Corona-Demo in der Nähe und trugen Kleidung, die der rechten Szene zugeordnet wurde. Demo-Teilnehmer bedrängten sie, die Zivilbeamten wehrten sich mit Pfefferspray, es kam daraufhin zu ersten Dosenwürfen.

    Als schließlich ein Einsatzfahrzeug wegfahren wollte, die Straße aber von Demonstranten zugestellt war, wurden die Teilnehmer ohne Vorwarnung auseinandergetrieben. Die Lage eskalierte weiter.

    Was war passiert

    Im Anschluss kam es zum Gebrauch von Schlagstöcken und Verfolgungsjagden Tatverdächtiger durch den Park, wodurch bei den Parkbesuchern und Teilnehmer eine panische Fluchtbewegung entstand. Auf der anderen Seite des Parks wurde schließlich eine unbeteiligte Person aufgrund einer Verwechslung festgenommen, sie saß in weiterer Folge drei Tage lang im Polizeianhaltezentrum und der Justizanstalt Josefstadt, seine Geschichte schilderte er "Heute" unmittelbar nach der Freilassung.

    Eine andere Teilnehmerin gab an, drei Mal von einem Polizisten geschlagen worden zu sein. Die Verletzungen ließ sie sich im Spital bestätigen. Nach der Einvernahme des beschuldigten Beamten stand es Aussage gegen Aussage, obwohl dieser einen Einsatz des Schlagstocks zugab. Im "ORF" schilderte die Frau einige Monate später ebenfalls ihre Erlebnisse.

    Das Verfahren wurde eingestellt, die Teilnehmerin habe sich die Schläge im Eifer des Gefechts nur eingebildet und sei wohl einfach gestürzt. Später tauchte ein Video des Vorfalls auf. Dort ist kein Sturz zu sehen, der Gebrauch des Schlagstocks hingegen schon. Die Szene ist recht unübersichtlich und hektisch. Ein gezieltes Schlagen des Beamten sei aber nicht erkennbar, so die Staatsanwaltschaft, das Verfahren wurde deswegen nicht wiederaufgenommen.

    Das Gutachten

    In seinem Gutachten ortet Sonderegger jedenfalls "klare Hinweise auf die Misshandlung" von Teilnehmern durch die Polizei, auch in Versammlungs- und Pressefreiheit soll eingegriffen worden sein. "In zumindest acht Fällen erscheint die ausgeübte Zwangsgewalt – in Form von Körperkraft, dem Einsatz von Pfefferspray oder dem Schlagstock – als ungerechtfertigt oder unverhältnismäßig", heißt es im Bericht. Hinweise dazu sollen in Folge "nicht ausreichend unabhängig, gründlich, rasch, kompetent oder transparent" untersucht worden sein. 

    Der Einsatzleiter selbst habe einen Schlüsselanhänger einer FPÖ-nahen Gewerkschaft getragen und die Veranstalter mehrmals dazu gedrängt, die Versammlung aufzulösen. "Die Analyse des Einsatzes hinterlässt insgesamt den Eindruck, dass der Bedeutung sozialer Dynamiken bei Versammlungen wenig Beachtung geschenkt und Spannungen mit erheblicher bis massiver Polizeigewalt begegnet wurde, statt diese vorausschauend durch geeignete taktische und kommunikative Maßnahmen auszuräumen oder abzumildern."

    Im Anschluss sei die Aufarbeitung mehr als intransparent vonstattengegangen. Schon wenige Tage später erklärte der Polizeipräsident, dass keine Fehler gemacht wurden, wodurch eine gewisse Vorverurteilung gesetzt worden wäre. 

    Regierung versprach unabhängige Behörde

    Wegen Vorkommnissen wie diesem versprach die Bundesregierung schon 2020 im Regierungsprogramm neue Maßnahmen. Zur konsequenten und unabhängigen Ermittlung bei Misshandlungsvorwürfen gegen Polizeibeamte sollte eine eigenen Behörde geschaffen werden, "die sowohl von Amts wegen ermittelt als auch als Beschwerdestelle für Betroffene fungiert und mit polizeilichen Befugnissen ausgestattet ist."

    Die Präsentation im Herbst 2020 wurde verschoben, 2021 stand abermals der Herbst im Raum. "Doch bis dato sind weder konkrete Pläne für die Umsetzung von Seiten der Regierung präsentiert, noch ist die Zivilgesellschaft in die Konzeption dieser Stelle eingebunden worden. Amnesty fordert daher eine rasche Umsetzung des geplanten Projektes sowie einen verbindlichen Zeitplan für die Reform", so Teresa Exenberger, Juristin und Advocacy and Research Officer bei Amnesty International.

    Grüne arbeiten an Umsetzung

    Georg Bürstmayr, Sprecher der Grünen für Inneres, gesteht gegenüber der "APA" ein, dass diese Analyse eigentlich Aufgabe der Polizei gewesen sei. Das Vertrauen sei dadurch abermals zerstört worden. Zur geplanten Behörde: "Vorgespräche, Konzepte und Nachdenkpausen hat es schon gegeben. Jetzt geht es darum, das Vorhaben gemeinsam umzusetzen", kündigt Bürstmayr an.

    Wie genau diese "Behörde" aussehen wird, steht also noch in den Sternen. Möglich wäre auch eine Umsetzung per einfacher Weisung. Durch den Antifoltererlass 2018 gibt es schon jetzt die Möglichkeit, dass die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ganz oder teilweise an sich zieht. Zur tatsächlichen Untersuchung der Vorwürfe bräuchte sie dann aber mehr Ressourcen. So oder so: Weisung und Budgetzuteilung durch die Justizministerin würden genügen.

    Die wichtigsten Empfehlungen von Amnesty
    – Wirksame Untersuchung der Vorwürfe anlässlich der „Mayday“-Demo am 1. Mai 2021.
    – Rasche Umsetzung des Vorhabens, eine unabhängige Ermittlungs- und Beschwerdestelle bei Misshandlungsvorwürfen einzurichten; auf Basis der fünf Kriterien der Wirksamkeit, gründlicher Evaluierung unter Einbeziehung aller Stakeholder:innen und Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
    – Stärkung der Menschenrechte auf Versammlungen durch wirksame Evaluierung und entsprechende Anpassungen polizeilichen Handelns.