Naghme Kamaleyan-Schmied ist nicht nur Allgemeinmedizinerin in Wien, sondern auch Vizepräsidentin der Wiener Ärztekammer. Sie erlebt täglich, was viele ihrer Kolleg:innen inzwischen in die Verzweiflung treibt: Online-Bewertungen, die beleidigen, bedrohen, Existenzen gefährden. "Was mir passiert, passiert überall. Ich spreche hier nicht nur für mich – sondern für eine ganze Berufsgruppe, die langsam zerbricht."
Seit der Pandemie ist der Ton rauer geworden. Die Forderungen steigen, die Geduld sinkt. Und wehe, man erfüllt nicht sofort jeden Wunsch – dann hagelt es Ein-Stern-Bewertungen, oft anonym und voller Unterstellungen. "Wir dürfen uns nicht wehren. Wir dürfen nichts klarstellen. Und doch lesen das alle."
Eine Patientin forderte ein heikles Medikament. Als Kamaleyan-Schmied ablehnte, drohte sie: "Dann bekommen Sie null Sterne!" Bald tauchten drei schlechte Bewertungen auf – von vermutlich derselben Person. "Das zerstört Vertrauen – und wir haben keine Möglichkeit, etwas dazu zu sagen."
Es sind nicht nur solche Einzelfälle. Kollegen berichten der Kammer regelmäßig von ähnlichen Szenen: Patienten, die krankgeschrieben werden wollen, obwohl sie gesund sind – und nach einer Absage online beleidigen. Oder falsche Vorwürfe, weil jemand warten musste.
"Ein Mitarbeiter von mir wurde in einer Rezension übelst beschimpft – nur weil er auf die Maskenpflicht hinwies. Er hat daraufhin gekündigt", erzählt Kamaleyan-Schmied. Eine junge Kollegin weinte nach einer Online-Bewertung über ihre angebliche Inkompetenz. Sie hatte zuvor nur versucht, mit einer Patientin trotz Sprachbarriere zu kommunizieren. Inzwischen hat sie die Branche verlassen.
Diese Geschichten wiederholen sich quer durch Österreich. Laut einer aktuellen Umfrage der Ärztekammer waren 55 Prozent der Ärzt:innen in den letzten zwei Jahren verbaler Gewalt ausgesetzt. 24 Prozent litten unter psychischer Gewalt, 14 Prozent unter Angriffen im Netz.
Was viele nicht wissen: Eine Handvoll negativer Bewertungen auf Google kann dafür sorgen, dass Patienten wegbleiben. "Wenn jemand einen Arzt im Internet sucht und nur wütende Kommentare liest, überlegt er sich den Besuch zweimal", sagt Kamaleyan-Schmied.
Das frustriert auch jene Patienten, die die Praxis schätzen. "Viele sagen nach dem Termin: 'War eh super bei euch!' – aber sie schreiben keine Bewertung. Die lauten und unfairen Stimmen dominieren."
Um Ärztinnen und Ärzte besser zu schützen, hat die Wiener Ärztekammer eine Ombudsstelle für Hass im Netz gegründet. Sie hilft mit rechtlicher Beratung, Vorlagen für Löschanträge und psychologischer Unterstützung. "Wir bieten erste Hilfe – aber der Schaden ist oft schon da", sagt Kamaleyan-Schmied.
Zusätzlich gibt es das Programm Physicians Help Physicians, bei dem Kollegen psychisch belastete Ärzte begleiten. "Wir müssen füreinander da sein – die Belastung ist enorm, und sie nimmt weiter zu."
Als Vizepräsidentin der Ärztekammer fordert Kamaleyan-Schmied konkrete Änderungen: "Es braucht eine Klarnamenpflicht bei medizinisch relevanten Bewertungen – und eine Einschränkung auf sachliche Inhalte wie Wartezeit, Infrastruktur oder Aufklärung. Persönliche Angriffe oder Lügen haben dort nichts verloren."
Denn sie weiß: Es geht nicht um ihren Ruf allein. Es geht um das Vertrauen in die gesamte medizinische Versorgung – und um Kolleginnen und Kollegen, die heute schon überlegen, ob sie ihren Beruf überhaupt noch weiter ausüben können.