Künstliche Intelligenz hält immer stärker Einzug in den OP-Saal. In Wien entwickeln Forscher jetzt Modelle, die Patientendaten wie Laborwerte, Puls oder Medikamentenlisten auswerten und so Risiken nach Operationen erstaunlich genau vorhersagen können. Systeme an der Charité oder der Mayo Clinic schaffen dabei Genauigkeitswerte zwischen 0,84 und 0,90 und ergänzen damit bewährte Methoden wie die ASA-Klassifikation. "Diese Modelle helfen uns, präziser aufzuklären und die Narkose noch individueller anzupassen", betont Primarius Knotzer.
In einer aktuellen Zusammenarbeit der MedUni Wien und der TU Wien wurde ein KI-Modell entwickelt, das gefährliche Blutdruckabfälle während Operationen bis zu sieben Minuten im Voraus erkennen kann. Laut einer Aussendung analysiert der sogenannte Temporal Fusion Transformer laufend Werte wie Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung und Beatmung. So können Ärztinnen und Ärzte rechtzeitig eingreifen, bevor es zu kritischen Situationen kommt. Das System nutzt Routinedaten, die ohnehin im OP erfasst werden, und wurde mit den Daten von über 73.000 Patientinnen und Patienten am AKH Wien trainiert.
Die Vorhersage des Blutdruckverlaufs war im Schnitt nur um 4 mmHg daneben - ein außergewöhnlich genauer Wert. Kritische Abfälle wurden mit über 90 Prozent Genauigkeit erkannt. "Solche Entwicklungen zeigen, wie KI die Sicherheit im Operationssaal weiter erhöhen kann", sagt Knotzer und verweist auf die Arbeit seines Kollegen Univ.-Prof. Dr. Oliver Kimberger, der sich für den verantwortungsvollen Einsatz digitaler Technologien in der Medizin stark macht.
Auch während der Operation wird KI immer wichtiger. Automatisierte Systeme steuern Narkosemittel wie Propofol in Echtzeit, und zwar auf Basis von EEG-, Kreislauf- und Atemdaten. Studien zeigen, dass so die Narkosetiefe stabiler bleibt und bis zu 30 Prozent weniger Medikamente nötig sind. "Das bedeutet mehr Sicherheit für die Patientinnen und mehr Effizienz für das OP-Team", bestätigt Knotzer.
Auch bei Routineaufgaben kann KI Ärztinnen und Ärzte entlasten. Der sogenannte Smart-Anesthesia-Manager übernimmt Dokumentation und Protokollierung fast automatisch. So bleibt mehr Zeit für das Wesentliche - für die Patientinnen und Patienten. In Zukunft wird KI mit Spracherkennung und Empfehlungen in Echtzeit die Entscheidungsfindung zusätzlich unterstützen.
Auch Aus- und Weiterbildung profitieren: KI-gestützte Simulationen analysieren das Verhalten im Team, geben individuelles Feedback und steigern den Lernerfolg um bis zu 35 Prozent. Mit Virtual und Augmented Reality entstehen praxisnahe Trainingsumgebungen, die Abläufe im Krankenhaus realistisch nachbilden. In der Forschung kann KI komplexe Daten aus Narkoseprotokollen, Intensivdokumentationen und Patientenakten auswerten, Muster erkennen und Zusammenhänge sichtbar machen, die bisher verborgen waren. So lassen sich Risiken wie Blutdruckabfälle während der OP, Delirien nach der Operation oder Atemprobleme in Zukunft noch gezielter vermeiden.
Univ.-Prof.in Dr.in Judith Martini von der Universitätsklinik Innsbruck betont, wie wichtig der verantwortungsvolle Umgang mit KI ist: Die Systeme müssen auf hochwertigen, ausgewogenen Daten beruhen, sonst drohen Verzerrungen. Ebenso wichtig ist, dass die Algorithmen nachvollziehbar bleiben - die "Black Box" hat in der Wissenschaft nichts verloren. Nur transparente, überprüfbare Abläufe sichern Glaubwürdigkeit und Qualität. Auch ethische und datenschutzrechtliche Fragen müssen immer mitbedacht werden, damit die Integrität der Wissenschaft und der Schutz sensibler Patientendaten gewahrt bleiben.
Trotz aller Fortschritte bleibt eines klar: Menschliche Verantwortung steht immer im Mittelpunkt. "Künstliche Intelligenz wird ein wertvoller Kollege sein, aber kein Ersatz für ärztliche Verantwortung", sind sich Univ.-Prof.in Priv.-Doz.in Dr.in Judith Martini und Prim. Priv.-Doz. Dr. Johann Knotzer einig.