Die PKK gibt ihren Kampf gegen den türkischen Staat auf: Die "Arbeiterpartei Kurdistans" folgt dem Appell ihres inhaftierten Übervaters Abdullah Öcalan und löst sich nach über vier Jahrzehnten auf.
In den Konflikt zwischen der PKK und der Türkei war im Herbst Bewegung gekommen, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein rechtsnationalistischer Koalitionspartner MHP überraschend auf Öcalan zugegangen waren. Für den Fall einer PKK-Auflösung stellten sie seine Freilassung in Aussicht.
Die niederländische Journalistin und Kurden-Kennerin Fréderike Geerdink wertet die Auflösung der PKK als "Signal, in die demokratische Politik zu investieren, um zur Sicherung der kurdischen Rechte beizutragen und als legitime Bürger der Türkei anerkannt zu werden". Wie die Politologin Gülistan Gürbey bezweifelt sie aber, dass dieser Schritt die Lage der Kurden insgesamt verbessern wird.
"Für sie ist es ein historischer und hochemotionaler Moment – vergleichbar mit 1999, als Abdullah Öcalan in Kenia verhaftet und in die Türkei überführt wurde", sagt Politologin Gürbey. Nach ihren Beobachtungen gebe es auf Seiten der Kurden ein weinendes und ein lachendes Auge. "Lachend, weil die Menschen sich freuen, dass die Waffen schweigen. Sie hoffen auf Frieden, auf mehr Rechte und Sicherheit für die kurdische Bevölkerung in der Türkei, auch wenn es noch keine konkreten Anzeichen dafür gibt. Und weinend, weil sich viele fragen: Wieso löst eine Organisation, die über 40 Jahre gekämpft und so viele Tote auf beiden Seiten verzeichnet hat, sich bedingungslos auf, ohne dass die Gegenseite Konzessionen eingegangen ist im Sinne mehr Rechte für die kurdische Bevölkerung? Wofür waren all die Opfer, war das alles umsonst? Diese Fragen beschäftigen viele Kurden."
„Für die Kurden ist es ein historischer und hochemotionaler Moment.“Gülistan Gürbey
Ihre gesellschaftliche und politische Gleichstellung in der Türkei. Verhandlungspunkte könnten die Anerkennung des Kurdischen als Nationalsprache oder die Änderung des Verfassungsartikels sein, der besagt, dass jeder türkische Staatsbürger Türke ist. Eine weitere zentrale kurdische Forderung: das Ende der Einsetzung von Zwangsverwaltern. In von der prokurdischen Partei regierten Provinzen in der Türkei werden immer wieder gewählte Bürgermeister durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt. Nicht zuletzt wird seit Jahrzehnten auch ein Ende von Öcalans Isolationshaft gefordert.
"Es geht Ankara um strategische Ziele und eine strategische Neuausrichtung inmitten der aktuellen regionalen Umwälzungen", sagt Gürbey. "Deswegen propagieren Erdogan und Devlet Bahceli – der ultranationalistische Koalitionspartner in Erdogans Regierung – ununterbrochen die Stärkung der ‹inneren Front› – um die Position der Türkei als hegemoniale Führungsmacht in der Region und als Schutzpatron der Kurden zu sichern."
„Ankara will die Position als Führungsmacht in der Region und als Schutzpatron der Kurden sichern.“Gülistan Gürbey
Im Zuge der Entwicklungen nach dem 7. Oktober 2023 sei die geopolitische Rivalität zwischen der Türkei und Israel signifikant gestiegen. "Die türkische Regierung nimmt Israels militärische Vorstöße als echte Bedrohung wahr", so Gürbey weiter. "Dazu zählt auch eine strategische Annäherung zwischen Israel und den Kurden in Syrien und in der gesamten Region, zumal die Kurden als Machtbalancierer zu den Islamisten an strategischer Bedeutung zugelegt haben."
Entsprechend gehe es Ankara darum, eine kurdisch-israelische Annäherung zu verhindern und die führende Rolle der Türkei in der Region durch eine türkisch-kurdische Allianz strategisch zu stärken – auch mit Blick auf Syrien und das selbstverwaltete Kurdengebiet Rojava.
„Der Kern der Kurdenfrage besteht darin, dass ein Kurde in der Türkei allein Türke, aber nie Kurde sein kann.“Fréderike Geerdink
Das ist noch unklar. "Spekuliert wird etwa über eine türkische Amnestie der Tausenden politischen kurdischen Gefangenen", sagt Fréderike Geerdink. "Aber das wäre keine Lösung für die Kurdenfrage, deren Kern darin besteht, dass ein Kurde in der Türkei allein Türke, aber nie Kurde sein kann."
„Öcalan selbst hat sich klar gegen föderative und kulturalistische Lösungsmodelle entschieden.“Gülistan Gürbey
Ähnlich sieht es Gürbey. Dass die Waffen schwiegen, sei grundsätzlich wichtig und öffne den Weg der politischen Beteiligung: "Die PKK will diesen Prozess mit ihrer Auflösung forcieren. Es wird aber in erster Linie davon abhängen, ob und wie die türkische Regierung den Prozess handhaben wird, zumal die Türkei eine autokratische Entwicklung durchläuft und demokratische Prozesse unterdrückt." Dass die Auflösung der PKK nicht automatisch zu mehr Rechten für die Kurden führen werde, sei absehbar.
Gürbey fügt an: "Öcalan selbst hat sich in seiner Erklärung vom 27. Februar 2025 klar gegen föderative und kulturalistische Lösungsmodelle entschieden." Ihm zufolge hat die PKK ihre historische Rolle erfüllt und ist jetzt an einem Punkt angelangt, nach seinen Worten eine "demokratische Gesellschaft" mit dem türkischen Staat aufzubauen. Von früheren Forderungen wie Föderalismus, Autonomie, demokratischen Konföderalismus oder kulturellen Rechten ist nicht mehr die Rede.
PKK-Gründer Öcalan sitzt seit 1999 auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in Haft. Diese will er nach eigenen Angaben nicht verlassen. Nicht einmal Hausarrest scheine in seinem Interesse zu sein, sagt Politologin Gürbey. "Gleichwohl wird Öcalan weiterhin eine entscheidende Rolle spielen, um den Prozess nach dieser historischen Entscheidung weiter zu beeinflussen. Die türkische Regierung wird ihn weiterhin brauchen." Es kursierten zudem Gerüchte darüber, dass seine Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel bereits verbessert wurden – "damit er seine aktuelle Rolle besser ausführen kann, was ja auch im besonderen Interesse der Regierung ist".
*Dr. Gülistan Gürbey ist Politikwissenschaftlerin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Sie forscht zu Friedens- und Konfliktfragen mit einem Fokus auf die Türkei und Kurdistan-Irak.
*Fréderike Geerdink hat ein Jahr lang in den Kandil Bergen Nordiraks bei der PKK verbracht und darüber ein Buch geschrieben. Die niederländische Journalistin berichtet seit 2006 aus der Türkei, wo sie wegen "Verbreitung von terroristischer Propaganda" zwischenzeitlich festgenommen wurde.