Im Osten der Ukraine spitzt sich die Lage dramatisch zu. Russische Truppen haben bei Dobropillja einen gefährlichen Vorstoß erzielt – und damit eine zentrale Verteidigungslinie der Ukraine bedroht.
Der österreichische Militärexperte Oberst Markus Reisner erklärt im Gespräch mit der Berliner Zeitung, dass die russischen Angriffe zwar noch keinen vollständigen operativen Durchbruch erreicht hätten, der Einbruch in die ukrainischen Stellungen aber bereits bis zu 17 Kilometer tief sei. Besonders brisant: Die Vorstöße reichen in eine neue Verteidigungslinie hinein, die Kiew in den vergangenen Wochen für den Ernstfall errichtet hatte.
Laut Reisner setzen die Russen im Donbass gezielt auf Ablenkungsmanöver. Angriffe im Norden (zwischen Sumy und Charkiw) und im Süden (zwischen Cherson und Saporischschja) sollen ukrainische Truppen binden, um an anderer Stelle – wie jetzt nördlich von Pokrowsk – Lücken in der Front zu finden. Mit einer Kombination aus glasfasergesteuerten Drohnen und kleinen, flexiblen Kampftrupps gelingt es den Angreifern, Versorgungslinien zu stören und Schwachstellen auszunutzen.
Der Experte nennt derzeit mit Kupjansk im Norden, Siwersk im Osten, sowie Pokrowsk, Konstantinowka und Gebiete südlich davon fünf Brennpunkte. Die russischen Truppen versuchen dort, Kessel zu schließen und ukrainische Einheiten zu isolieren.
Reisner beschreibt die Lage mit einem plastischen Bild: "Die Russen haben die Tür aufgestoßen und den Fuß hineingestellt. Jetzt versuchen sie, weiter aufzudrücken – während die Ukrainer alles tun, um diesen Fuß wieder hinauszubekommen." Ob es zu einem vollständigen Durchbruch kommt, hänge nun davon ab, ob Russland schnell genug mehr Soldaten und Material nachführen kann – und ob die Ukraine operative Reserven bereitstellen kann.
Der Vorstoß fällt nur Tage vor dem für Freitag geplanten Treffen zwischen Wladimir Putin und Donald Trump in Alaska. Reisner ist überzeugt: "Moskau will Trump zeigen, dass die Front kurz vor dem Kollaps steht. Die Ukraine hingegen wird alles daransetzen, genau diesen Eindruck zu vermeiden – möglicherweise sogar mit einem eigenen Gegenangriff."
Am Ende, so der Militärexperte, entscheide nicht die große Strategie, sondern der Einsatz einzelner Soldaten vor Ort, ob aus dem gefährlichen Einbruch eine Kettenreaktion wird.