Josephine Myrtle Corbin erblickte am 12. Mai 1868 im US-Bundesstaat Tennessee das Licht der Welt. Ihre Geburt verlief ohne Zwischenfälle. Die Ärzte, die das Baby nach der Geburt untersuchten, beschrieben es als stark und gesund und attestierten ihm ein gesundes Wachstum. Sie hielten zudem fest, dass die Eltern, obwohl sie sich ausgesprochen ähnlich sahen, nicht blutsverwandt waren. Allerdings sei der Altersunterschied eher groß – Mutter Nancy war 34 Jahre alt, Vater William 25.
Dass die Ärzte dem Verdacht der Inzucht überhaupt nachgingen und den Altersunterschied betonten, war Ausdruck ihrer großen Ratlosigkeit. Denn die kleine Myrtle, wie sie genannt wurde, hatte vier Beine – und niemand konnte erklären, weshalb.
Die äußeren Beine waren normal groß, während die inneren verkürzt waren. Sie konnte diese Beine bewegen, aber nicht darauf stehen. Das konnte sie aber auf den äußeren. Da sie an einem der äußeren Beine einen Klumpfuß hatte, fiel ihr das Gehen allerdings schwer.
Myrtle, die je nach Quelle vier bis sechs "normale" Geschwister hatte, hatte zudem zwei vollständig ausgebildete Unterkörper. Ihr Geburtsdefekt wird heute als Kaudale Duplikation beschrieben, früher nannte man ihn Dipygus. Myrtle verfügte über zwei vollständig entwickelte Becken, einschließlich der Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane. Diese waren alle funktionstüchtig, weshalb ihre Ärzte vermuteten, dass sie später auch auf beiden Seiten schwanger werden könnte. Doch dazu später mehr.
Ihr Vater, der im amerikanischen Bürgerkrieg verwundet worden und mausarm war, erkannte schnell das kommerzielle Potenzial seiner Tochter. Bereits im Alter von nur einem Monat begann er, sie interessierten Nachbarn zu zeigen, wofür er eine Gebühr von zehn Cent (heute etwa zwei Dollar) verlangte.
Das Geschäft florierte und William druckte Flyer und schaltete Anzeigen in Zeitungen, um noch mehr Kundschaft anzulocken. Bald war Myrtle Corbin eine nationale Berühmtheit. 1881 begann sie im Alter von dreizehn Jahren offiziell ihre Karriere als Attraktion in sogenannten Freakshows, wo Menschen, die nicht der Norm entsprachen, öffentlich ausgestellt wurden. Auf einem Flyer wurde sie als "sanftmütig wie die Sommersonne und so glücklich, wie der Tag lang ist" angepriesen.
Im Jahr darauf wurde Zirkuspionier P. T. Barnum auf Myrtle Corbin aufmerksam. Der gewiefte Unternehmer hatte es sich zum Geschäftsmodell gemacht, die Leute um jeden Preis zu unterhalten. So arbeiteten in seinen Kuriositätenkabinetten etwa Martin Laurello, die "Menschliche Eule", oder Isaac C. Sprague, das "lebende Skelett". Für Barnum war "The Four-Legged-Girl", wie Corbin angepriesen wurde, ein Glücksfall.
Corbin wurde zu Barnums großem Star und verdiente bis zu 450 Dollar pro Woche (heute etwa 14.000 Dollar). Wenn sie die Bühne betrat, sah das Publikum zunächst nur ihre breiten Hüften und ihren rechten Klumpfuß. Das Aha-Erlebnis folgte, wenn sie ihr Kleid anhob, um ihre inneren Beine zu zeigen, die mit zu ihren äußeren Beinen passenden Socken und Schuhen bekleidet waren.
Im Alter von achtzehn Jahren beendete Corbin ihre Freakshow-Karriere und heiratete James Clinton Bicknell. Rund ein Jahr später wurde sie sehr krank und der herbeigerufene Familienarzt Lewis Whaley stellte fest, dass sie schwanger war. Und zwar auf der linken Seite. Laut dem Arzt soll Myrtle dazu gesagt haben: "Wenn es auf meiner rechten Seite wäre, würde ich es Ihnen eher glauben". Diese Aussage interpretierte Whaley dahingehend, dass Corbins Mann für den Geschlechtsverkehr den rechten Unterkörper bevorzugte.
Corbins Zustand verschlechterte sich weiter und Whaley nahm eine Abtreibung vor, von der sich seine Patientin gut erholte. Ihre weiteren Schwangerschaften verliefen unproblematisch und Corbin schenkte fünf Kindern das Leben, von denen vier das Erwachsenenalter erreichten. Wie es damals hieß, soll sie mit einem Teil der Kinder in der rechten und mit einem Teil in der linken Gebärmutter schwanger gewesen sein. Bereits in ihrer Pubertät hatten Ärzte festgestellt, dass sie auf beiden Seiten menstruierte.
In den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts schien die inzwischen auf einer Farm in Texas lebende Familie in Geldnöte geraten zu sein, da Corbin ein Comeback als Freakshow-Attraktion gab. Im Alter von 41 Jahren trat sie in Huber’s Museum, einem Kuriositätenkabinett in New York, auf. Bis 1915 folgten Auftritte auf Coney Island und in Chicago.
Corbin starb 1928 im Alter von 59 Jahren an einem Erysipel, einer Streptokokkeninfektion, die heutzutage mit Antibiotika gut behandelbar ist. Beigesetzt wurde sie unter einer massiven Betonplatte, da ihre Angehörigen befürchteten, Grabräuber könnten ihre Leiche stehlen. Die Sorge war wohl nicht unbegründet, hatten doch mehrere Ärzte und private Sammler der Familie Geld für ihre sterblichen Überreste angeboten, was diese jedoch ablehnte.
