Nachdem am 13. September bis zu 150.000 Menschen an einer rechtsextremen Kundgebung in London teilnahmen, deuten zahlreiche Social-Media-Beiträge darauf hin, dass sich ähnliche Demonstrationen in ganz Europa ausbreiten. Die geteilten Videos und Bilder werden als Beweis gewertet, dass die Menschen in Europa zunehmend dieselben Ansichten vertreten wie die Anhänger des britischen Rechtsextremen Tommy Robinson, dem Organisator der "Unite the Kingdom"-Kundgebung. Doch die angeblichen Beweisaufnahmen sind keine.
Deutschland
Einige Social-Media-Userinnen und -User teilen ein Video, das angeblich zeigt, dass auch die Deutschen in Scharen gegen Migranten auf die Straße gehen.
Das Video ist echt, wurde aber aus dem Zusammenhang gerissen. Es zeigt Fans des Hamburger Fußballclubs HSV.
"Eine starke Message Bürger in Deutschland" (hier) oder "Die Deutschen spielen NICHT mit" (hier): So wird das Video von dutzenden skandierenden Menschen in schwarzer Kleidung in den Captions angeteasert. In manchen Videos ist zudem die Botschaft eingeblendet, "Die Deutschen fordern nun die Abschiebung illegaler Migranten." Wo sich das Ganze abgespielt haben soll, wird nicht erwähnt.
Doch das Bild selbst liefert Hinweise: So sind auf den Rücken einiger Personen im Vordergrund die deutschen Begriffe "Polizei", "Kommunikationsteam" und "Hamburg" auszumachen. Auch auf dem Banner, dass die Skandierenden halten, scheint der Name der Hansestadt zu stehen. Die Bilderrückwärtssuche führt zu einer weiteren Version des Videos, das einen größeren Ausschnitt der Szene zeigt. Es wurde am 29. August auf Tiktok hochgeladen (hier archiviert). Dank der besseren Qualität des Clips lassen sich noch mehr Details ausmachen, die auf Hamburg deuten:
Über die identifizierten Schlüsselwörter – HSV, St. Pauli, 29. August und Max-Brauer-Allee – lässt sich herausfinden, in welchem Zusammenhang das Video entstanden ist: An dem Datum trafen die beiden Hamburger Fußballvereine im Stadtderby aufeinander.
Anlässlich der Begegnung traten die Anhänger beider Clubs ihre Fanmärsche an. Darüber gibt es mehrere Medienberichte und auch Videos:
Der Marsch der HSV-Fans führte über die Max-Brauer-Allee, wie eine Karte auf ndr.de zeigt (hier archiviert). Das bestätigt auch ein Video von Abendblatt-TV (hier archiviert), das dieselbe Szene, aber aus einer anderen Perspektive – mit Blick auf die linke Straßenseite – zeigt.
Hier ist auch zu hören, was die HSV-Fans wirklich skandieren: nicht "send them home", wie behauptet, sondern "Sch*** St. Pauli".
Polen
Ein Drohnenvideo von einer Kundgebung zeigt angeblich Millionen von Menschen, die in Polen gegen Einwanderung protestieren.
Die Behauptung ist falsch. Das Video ist zwar echt, wurde aber inhaltlich und zeitlich aus dem Kontext gerissen. Es zeigt eine Demonstration im November 2023.
Diejenigen, die das Video in den letzten Tagen posteten, bringen es mit der Kundgebung in London in Verbindung: "Mehr als drei Millionen Patrioten auf den Straßen von London. Auch in Polen sind es so viele", schreibt ein X-User. Ein anderer schreibt: "Und nun Polen: Weltweit finden massive Proteste statt." Doch: Das Video ist nicht aktuell.
Mit der Bilderrückwärtssuche lassen sich weitere Posts mit dem Video finden (etwa hier, hier archiviert). Auch diese verorten die Aufnahme in Polen. Allerdings stammt sie aus dem November 2023: Damals zogen zehntausende Nationalisten zum Unabhängigkeitstag durch die polnische Hauptstadt Warschau. Die Behörden sprachen damals von rund 40.000 Teilnehmenden, polnische Medien von bis zu 90.000. In Anlehnung an den britischen Brexit wurde dort der Polexit gefordert: der Austritt Polens aus der Europäischen Union (EU). Das jetzt erneut kursierende Video zeigt die Menschen auf den Straßen Aleja 3 Maja und Aleje Jerozolimskie. Im Hintergrund sieht man die Spitze des Varso Towers.
Spanien
Geteilt wurde in den letzten Tagen auch ein Video, das eine Vielzahl dichtgedrängter Menschen auf einem Platz zeigt. Laut Caption soll es zeigen, dass "Europa aufwacht."
Der Clip ist echt, wurde aber inhaltlich wie zeitlich aus dem Zusammenhang gerissen. Er zeigt Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Feierlichkeiten im spanischen Pamplona.
In den Posts ist kein Ort angegeben (etwa hier). Doch die Fahnen im Vordergrund deuten auf Spanien hin. Die Bilderrückwärtssuche bestätigt den Verdacht. Sie führt nach Pamplona, zu den Sanfermín-Feierlichkeiten, die alljährlich im Sommer stattfinden. Der Vergleich der Szenen im Video mit jenen, die auf dem offiziellen Instagram-Kanal des Festivals zu finden sind (hier und hier), zeigt: Die Aufnahmen stammen aus diesem Jahr.
Zu hören sind in dem Clip keine Protestrufe, sondern "La Biribilketa", ein traditionelles baskisches Lied. Es markiert während des Festivals jeweils den Beginn der Feierlichkeiten am Morgen. Bei dem Anlass, der im Video zu sehen ist, handelt es sich um den "Chupinazo" (Raketenstart), den offiziellen Beginn des Sanfermin-Festes: Am 6. Juli wird vom Rathausbalkon aus der Startschuss für die Feierlichkeiten gegeben, die vor allem wegen ihrer Stierläufe (Encierros) bekannt sind.
Die vermeintlich europaweite Welle rechtsextremer Proteste, die die Social-Media-Userinnen und -User mit den Videos aus Deutschland, Polen und Spanien suggerieren, existiert in dieser Form nicht. Die Nutzerinnen und Nutzer verzerren die Realität, indem sie alte oder kontextfremde Aufnahmen als aktuelle politische Proteste umdeuten.