Herr Härtel, welches ist Ihr Favorit unter den Zukunftsszenarien für die Ukraine?
Wenn wir am Ende eine Rest-Ukraine haben, die sich echte Souveränität bewahrt und in der Lage ist, sich innen- und außenpolitisch souverän weiterzuentwickeln. Das wäre trotz territorialer Einbußen eigentlich wie ein Sieg für die Ukraine und auch für Europa und für den Westen, da dies die imperialen Pläne Russlands in Ostmitteleuropa durchkreuzen und ein starkes Signal an weitere bedrohte Staaten setzen würde.
Soll das eine neutrale Ukraine sein? Eine Ukraine in der Nato und/oder EU?
Wichtig ist, dass die Ukraine über eine starke eigene Armee verfügt und dass sie auch nach einem Friedensschluss aus dem Westen militärisch unterstützt werden kann. Das ist das absolut Entscheidende. Ob sich die Ukraine nun der Nato anschließt oder EU-Mitglied wird, ist am Ende nicht so ausschlaggebend.
Wieso ist es nicht ausschlaggebend, in der Nato zu sein?
Die unverbrüchlichen Nato-Sicherheitsgarantien kann man seit Donald Trump selbst für aktuelle Nato-Mitgliedschaft inzwischen anzweifeln. Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob diese Mitgliedschaft bei einem Kriegsende für die Ukraine noch denselben Wert haben wird. Was für sie Wert hat, ist die ausgebaute militärische Zusammenarbeit mit den westlichen Nato-Staaten und eine eigene starke Armee, die aus dem Westen unterstützt wird und die man mit westlichen Waffen und Verteidigungsplänen auch interoperabel machen kann. Das ist das alles Entscheidende.
Sie sprechen das "Stachelschwein-Szenario" an, das darauf abzielt, die Verteidigungsfähigkeiten der Ukraine und Europas zu integrieren.
Das sogenannte Porcupine-Szenario halte ich zwar für das beste, aber es widerspricht diametral den russischen Kriegszielen und Moskau wird es in jedem Fall zu verhindern versuchen. Stattdessen will Russland eine Situation schaffen, in der die Ukraine – das, was von ihr verbleibt – nach einem Waffenstillstand oder Friedensschluss so instabil wie möglich bleibt, sowohl territorial, ökonomisch, militärisch und politisch. Der Staat soll von selbst zerfallen oder es sollen Bedingungen für eine zukünftige Regierung in Kiew geschaffen werden, die sich mittelfristig wie in Georgien enttäuscht vom Westen ab- und wieder Russland zuwendet. Für den Westen steht meines Erachtens wirklich eine Menge auf dem Spiel – es geht dabei nicht nur um Territorium und darum, dass dieses russische Regime mit seinen imperialen Zielen uns näher auf die Pelle rückt. Es geht auch um die Zukunft der gesamten Nachbarschaft, die bei einer Niederlage der Ukraine ganz neu über die EU nachdenken würde.
Eine ukrainische Niederlage würde die EU infrage stellen?
Es geht auch um Psychologie: Wenn die Ukraine zerschlagen wird und Russland sie sich unterordnen kann, wird das auch innerhalb Europas ein hohes Misstrauen gegenüber dem gesamten Ansatz westlicher und europäischer Sicherheit und Außenpolitik zur Folge haben. Manche Regierungen und Teile der Gesellschaften werden sagen: ‚Der Westen ist zu schwach, zu wenig einig und erfolgreich. Jetzt müssen wir uns mit Russland auf eine Architektur der europäischen Sicherheit einigen, die vor allen Dingen russischen Interessen entspricht, um nicht selbst das nächste Opfer zu werden‘. Diese Gefahr besteht.
Was spricht dagegen, russische Interessen in der europäischen Sicherheitsarchitektur künftig stärker zu berücksichtigen?
Wladimir Putin hält dem Nato-Beitrittswunsch der Ukraine entgegen, dass kein Land seine Sicherheit auf Kosten eines anderen Landes stärken dürfe. Dies widerspricht der europäischen Auffassung, dass Länder sich frei Bündnissen anschließen sollen können. Nehmen wir für einen Moment an: Der Westen akzeptiert künftig die russische Position, lässt die Ukraine weder in die Nato noch in die EU und unterstützt sie nicht weiter militärisch. Welches Szenario ist dann wahrscheinlicher: dass der Kreml die Souveränität der Ukraine respektiert oder die Situation ausnutzt, um das Land ohne große Kosten unter seine Kontrolle zu bekommen?
Man könnte entgegnen: Bislang konnte Russland nicht mal vier Oblaste einnehmen, wie denn das ganze Land?
Ich habe immer betont, dass es zwischen dem militärischen Erfolg der Ukrainer und westlicher Unterstützung jeglicher Art keinen unmittelbaren Zusammenhang gibt. Nur bei anhaltendem ukrainischen Kampfeswillen und militärisch-technologischem Geschick kann sich die westliche Unterstützung letztlich auszahlen. Die Schwierigkeiten der Ukraine bei der Mobilisierung und die Ermüdung der Truppen an der Front sind zudem ein Nachteil strategischer Art, den der Westen kaum beeinflussen und der sich innerhalb von wenigen Monaten dramatisch auswirken kann.
„Wie der Kreml müssen sich dieser Logik die EU und deren enge Verbündete ebenso klar verpflichten, wenn sie erfolgreich sein wollen.“André Härtel
Von daher würde ich empfehlen, die überschaubaren Landgewinne Russlands nicht zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen und zum ukrainischen Vorteil zu interpretieren. Die Lage in der Ukraine ist auch ökonomisch instabil, die Bombardierungen beeinträchtigen das Leben stark und der Glaube an eine gute Zukunft schwindet. Es bleibt dabei: Der Kreml betreibt den Ukraine-Krieg mit einem langfristigen Ansatz und weit über das Land hinausgehenden strategischen Zielen. Dieser Logik müssen sich die EU und deren enge Verbündete (UK, Kanada) ebenso klar verpflichten, wenn sie erfolgreich sein wollen.