Nach 25 Jahren dauernden Verhandlungen haben sich die Europäische Union und die südamerikanischen Mercosur-Staaten – Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay – auf ein gemeinsames Freihandelsabkommen geeinigt. Es würde die weltweit größte Freihandelszone mit über 700 Millionen Einwohnern schaffen, die meisten (nicht alle) Zölle zwischen den Regionen würden gestrichen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach beim Gipfeltreffen in Montevideo, Uruguay, von einem "historischen Meilenstein" sowie einer "wirtschaftlichen Chance" und "politischen Notwendigkeit" in einer Zeit zunehmender "Isolation und Fragmentierung".
Der Freihandelspakt stand in der Vergangenheit aber massiv in der Kritik, der Vertragsentwurf 2020 scheiterte unter anderem an der Ablehnung Österreichs, damals unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Landwirtschaft und Umweltschützer gehörten und gehören zu den schärfsten Kritikern.
Die damalige Entscheidung des Parlaments bindet den zuständigen ÖVP-Handelsminister Martin Kocher, in kommenden EU-Gremien gegen das Mercosur-Abkommen zu stimmen – gegen seinen Willen. Er selbst fordert nun in seinem privaten Blog, "dass Österreich seine Haltung [...] gründlich überdenkt". Ein überraschender Schwenk von der bisherigen Linie.
„Schon alleine wegen der aktuellen Konjunkturflaute vor allem in der exportierenden Industrie, bin ich dafür, dass Österreich seine Haltung gegenüber dem Mercosur-Abkommen gründlich überdenkt“Martin KocherHandelsminister (ÖVP)
Der Noch-Minister und designierte Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) sieht die geopolitischen Rahmenbedingungen verändert: "Derzeit erleben wir eine ausgeprägte und langanhaltende Industrierezession. Umso wichtiger sind Impulse für die Industrie aus den Exporten. [...] Jede Liberalisierungsmaßnahme des Welthandels unterstützt die Erholung der Industrie." Und: "Das Abkommen schafft Chancen und Arbeitsplätze in Österreich."
Trotz aller Vorteile würden sich jedoch "weit rechts stehende Parteien und weit links stehende NGOs" in einer seltenen Einigkeit dagegen aussprechen, beklagt Kocher. Sowohl FPÖ-Chef Herbert Kickl ("Totalangriff auf unsere Bauern") als auch Greenpeace ("Konzern-Profite auf Kosten von Natur und Landwirten"), um zwei Beispiele zu nennen, hatten kürzlich scharf gegen den Mercosur-Pakt geschossen.
"Eine solche generelle Ablehnung wäre ein Verarmungsprogramm für Österreich", warnt der Noch-Minister vor den Folgen. Er befürchtet, dass Parteien "aus reinem Populismus" oder "in Geiselhaft von Interessengruppen" diese Chance verstreichen lassen würden. Österreichs Status als starke Exportnation werde dadurch gefährdet.
Die beiden größten Kritikpunkte, Umwelt- und Klimaschutz sowie Marktverzerrungen zulasten unserer Landwirtschaft, sieht Kocher in der aktuell ausverhandelten Fassung ausgeräumt: "Das aktualisierte Abkommen sieht noch stärkere Mittel zur Durchsetzung von Klimaschutzzielen vor", auch das Übereinkommen von Paris sei darin als "essential element" verankert. Bei Verstößen könnte es somit sogar bis zur Aussetzung des Abkommens kommen.
Es gehe gar nicht so sehr um Ja oder Nein zum Freihandelsabkommen, sondern ob es der EU gelinge auch in Südamerika "vernünftige Grundregeln" durchzusetzen. Kocher: "Es ist eine Illusion, dass der Amazonas durch das Nicht-Abschließen des Abkommens besser geschützt wäre. Ohne Mercosur würden die Mercosur-Staaten mit anderen Regionen, z.B. China, Freihandelsabkommen abschließen. Wer glaubt, dass diese Staaten mehr am Klimaschutz interessiert wären als die EU, ist nicht ganz ernst zu nehmen." Er habe deshalb nur "begrenzt Verständnis" für die ablehnenden Argumente der Grünen.
Auch auf die Kritik an den möglichen Nachteilen für unsere Bauern geht der Ökonom ein: "Es liegt in der Natur der Sache von Abkommen, dass sie Quid-pro-quo-Komponenten enthalten." Europa könne mehr Industrie-Produkte nach Südamerika exportieren, einige Mercosur-Staaten hätten dafür relative Wettbewerbsvorteile bei der landwirtschaftlichen Produktion. In diesen Bereichen sei der Zugang zum europäischen Markt aber "streng begrenzt".
"Das Abkommen sieht Quoten, also Obergrenzen, für zollbegünstigte Importe vor, die sich erst über viele Jahre aufbauen." Für Rindfleisch etwa sei eine Obergrenze von 1,6 Prozent des gesamten Rindfleischkonsums in der EU vorgesehen – und selbst diese Importe blieben immer noch mit einem Zollsatz von 7,5 Prozent belegt.
"Ich verstehe durchaus, dass die europäische Landwirtschaft lieber 0 als 1,6 Prozent Wettbewerbsdruck aus den Mercosur-Staaten hätte, aber es gibt neben den Quoten weitere Zusicherungen der Europäischen Kommission." Dazu zählen temporäre Import-Schranken, sollte tatsächliche Marktverzerrungen auftreten, auch Kompensationszahlungen an Landwirte seien im Fall von Einkommensverlusten vorgesehen.
Mit Blick auf das CETA-Abkommen mit Kanada wischt Kocher diese Bedenken vom Tisch: "Nach sieben Jahren liberalisiertem Handel mit Kanada wissen wir: Die Agrarexporte der EU sind um einiges stärker angestiegen, als Agrarimporte aus Kanada. Auch die europäische Landwirtschaft hat durch CETA profitiert." Ähnliches erwarte er durch Mercosur.
"Neben den ökonomischen Aspekten sprechen auch geopolitische Aspekte und der Zugang zu kritischen Rohstoffen und Mineralien, die Europa dringend für die Klimawende braucht, für den Abschluss des Mercosur-Abkommens. Ich bin dafür, dass sich – angesichts der beschriebenen Faktenlage – die österreichische Position zu Mercosur ändert. Dafür braucht es aus meiner Sicht ein Votum des Parlaments, aber alle vernünftigen Parteien sollten ein Interesse an der Umsetzung der größten Freihandelszone der Welt haben, die beiden Seiten – vor allem den Konsumentinnen und Konsumenten – Vorteile bringt."