"Wir befinden uns am Beginn eines Zeitalters von Nachfolgekriegen." Mit dieser wenig erfreulichen Einschätzung lässt der unabhängige Militäranalyst Franz-Stefan Gady aufhorchen. Mit dem Rückzug der USA als Hegemon und Weltpolizei werde es zunehmend schwierig, Konflikte einzufrieren und langfristig Frieden zu garantieren, argumentiert er in einem Interview mit dem YouTube-Kanal "Erklär mir die Welt".
In dieser Hinsicht wären die letzten Jahrzehnte relativen Friedens in Europa eine Ausnahme gewesen, betont Gady, denn historisch seien in einer multipolaren Ordnung Nachfolgekriege die Normalität: "Grundsätzlich ist es in der Geschichte so, dass es immer eine größere Anzahl an Kriegen zwischen zwei Ländern gegeben hat."
Ohne Sicherheitsgarantien einer Schutzmacht für eine Seite könne es längerfristig kaum echten Frieden geben, sondern nur einen Waffenstillstand. Besonders, wenn eine oder beide Parteien ihre Ziele noch nicht erreichen konnten, drohen eingefrorene Konflikte immer wieder neu zu entflammen.
Das sei die große Lektion aus dem Ersten Weltkrieg: Die USA hatten sich danach aus Europa zurückgezogen, es gab ein freies Spiel der Kräfte. Die deutsche Heeresleitung sah sich auf dem Schlachtfeld unbesiegt, gab Demokraten, Kommunisten, Juden die Schuld an der Niederlage. Stichwort Dolchstoßlegende. Diese Propagandalüge führte zwanzig Jahre später direkt in den Zweiten Weltkrieg.
"Das ist ein Szenario, das wir auch in der Ukraine möglicherweise beobachten müssen", sagt Gady. Besonders, wenn es nach einem Waffenstillstand nur schwache oder gar keine Sicherheitsgarantien für Kyjiw geben sollte: "In dieser Hinsicht bin ich nicht optimistisch, dass es nicht irgendwann in Zukunft nicht einen noch brutaleren, größeren Nachfolgekrieg geben wird."
Die Wahrscheinlichkeit dafür sei größer, wenn es keine harten Sicherheitsgarantien mehr gibt. Europa könnte einspringen und die USA in dieser Rolle ersetzen. Doch dazu bräuchte es laut dem österreichischen Analysten europäische Truppen an der Seite ukrainischer Soldaten, die auch gewillt wären, im Ernstfall Krieg gegen Russland zu führen. Das führt ihn zur alles entscheidenden Frage: "Würden europäische Länder gewillt sein, im Notfall an der Seite der ukrainischen Truppen gegen Russland zu kämpfen?" Diesen Willen könne er derzeit nicht erkennen.
Das auch, weil es Europa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht geschafft habe, für sich selbst zu definieren, was die Ukraine für die europäische Sicherheitsarchitektur bedeute: "Wir haben uns immer weitergewurschtelt", diese grundsätzliche Frage nie beantwortet, kritisiert Gady. Deshalb hätten die derzeitigen Staats- und Regierungschefs auch kein politisches Mandat, eine Entscheidung dieser Tragweite zu treffen. "Wir müssen eine ganz konkrete Antwort auf diese Frage haben, bevor wir irgendwas machen!"
Für ihn sei aber klar, dass das Modell Österreich für die Ukraine nicht funktionieren könne: "Die Ukraine kann nicht neutral bleiben. Sie ist geostrategisch zu wichtig für Russland, aber wahrscheinlich auch zu wichtig für Europa – oder auch nicht..."
Darauf folgend müsse man die Frage stellen: Gehen wir in einen Konflikt wegen Prinzipien, oder aus harten nationalen oder europäischen Interessen? Letzteres sei, so betont der Experte, im Ernstfall "immer besser".
Gady: "Das macht mich vielleicht nicht sehr populär in gewissen Kreisen, aber wir haben ein grundsätzliches Problem in Europa und den USA, dass wir die grundsätzlichen Fragen – Was wollen wir erreichen? Was sind unsere Interessen? Was ist eine Exit-Strategie? – uns vor Kriegsausbruch oft nie stellen."
Ohne zu wissen, was Wladimir Putin wirklich plant, gibt es für ihn zwei Möglichkeiten:
Ein baldiges Ende ist auch im vierten Jahr der russischen Invasion noch nicht in Sicht. Immer wieder werde er gefragt, warum die Ukrainer denn weiterkämpften, wenn sie doch wüssten, dass sie gegen Russland nicht gewinnen könnten, schildert Gady weiter und klärt auf: "Ja, möglicherweise wissen sie das", doch der diplomatische Weg sei oft lange Zeit versperrt.
"Man darf nicht vergessen, dass jegliche Vertrauensbasis zerstört wurde. Wie kann man mit jemandem verhandeln, der einem direkt ins Gesicht gelogen hat?" Dieses fehlende Vertrauen mache es oft unmöglich, schnell nach Ausbruch eines Krieges einen Ausweg zu finden. Oft nehme der Krieg erst dann ein Ende, wenn beide Seiten komplett erschöpft seien und es keine militärische Option mehr gebe.
Und der aus seiner Sicht zweite bedeutende Aspekt: Oftmals wird aus Furcht weitergekämpft. Aus Furcht vor etwas Schrecklicherem als der militärischen Niederlage.
So würden die historischen Daten zeigen, dass der deutschen Heeresleitung bereits Ende August / September 1914 bekannt war, dass sie diesen großen Krieg voraussichtlich nicht mehr gewinnen konnte. Dennoch wurde noch Jahre weitergekämpft. Warum? "Die deutsche Heeresleitung und der Kaiser fürchteten sich nicht so sehr vor einem alliierten Sieg wie vielmehr vor einer Revolution im deutschen Reich" – zu der es nach der Niederlage auch kam. "Das ist möglicherweise auch eine Parallele zu Russland, zur Ukraine. Das muss man sich immer vor Augen halten", sagt Gady.
Sein Fazit ist ernüchternd: "Die Idee 'Na, die sollen sich einfach zammsetzen und verhandeln', das funktioniert einfach nicht. Kriege haben natürliche Zyklen, die sie durchlaufen. Und so brutal es klingen mag, die Anfangsphase ist oft nicht jene, wo man sich hinsetzen kann. Die Emotionen sind noch hoch, beide Seiten sind hochgerüstet, haben noch nicht die Verluste erlitten, die sie erleiden müssen, um irgendwann einmal zu sagen: 'Der Ofen ist aus'."
Die jüngste Verhandlungsrunde zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul ist auch für Gady offensichtlich nur ein Kreml-Schauspiel gewesen, denn Putin wähnt sich auf der Siegerstraße: "Russland hat kein Interesse, diesen Konflikt im Moment zu beenden." Selbst wenn, ein Waffenstillstand zum jetzigen Zeitpunkt, wäre nicht glaubhaft und höchstwahrscheinlich nur ein taktisches Manöver, um etwa einen neuen Angriff vorzubereiten.
Der erste Schritt zu einem Ende des Krieges wäre laut Gady eine Stabilisierung der Front: "Russland muss überzeugt werden, dass es militärisch nicht mehr gewinnen und die Ziele nicht mehr erreichen kann. Oberstes Ziel für die Europäische Union sollte es daher sein, die Ukraine weiterhin militärisch zu unterstützen. Erst wenn die eigenen hohen Verluste zu einem Umdenken im Kreml führen – ob das passiert, weiß ich nicht –, nur dann ist es glaubwürdig, dass Russland einem Waffenstillstand zustimmen würde."