Seit Montag ist es offiziell: ÖVP-Kanzler Christian Stocker wird gemeinsam mit SPÖ-Vizekanzler Andreas Babler und NEOS-Außenministerin Beate Meinl-Reisinger versuchen, einerseits ein immenses Budgetloch zu stopfen, andererseits höchst ambitionierte Projekte umzusetzen. Wie das gelingen soll, wo die drängendsten Probleme liegen und wie das Projekt Ampel überhaupt funktionieren soll, beantworteten die NEOS-Chefin und der ÖVP- und SPÖ-Obmann zur "Primetime" im ORF beim Interview mit den Moderatoren Susanne Schnabl und Armin Wolf.
Man habe "ein gemeinsames Programm erarbeitet" und sich entschlossen, das Richtige für Österreich zu tun, deswegen solle der Name der Regierung auch unter dem Motto "Gemeinsam das Richtige tun" firmieren, so Stocker, der zugab, dass er Ende 2024 nicht daran geglaubt hätte, heute Bundeskanzler zu sein. Ex-Kanzler Karl Nehammer habe ihm bereits gratuliert. "Im Zweifelsfall sind wir die Dreierkoalition", so Meinl-Reisinger, "das Programm ist voller Lösungen, wirklich in allen Bereichen, das ist mehr als Kompromisse", so die neue Außenministerin.
Dass von ÖVP und NEOS nach dem Scheitern der ersten Ampel-Gespräche gegen SPÖ-Chef Babler gefeuert wurde, spielte Meinl-Reisinger herunter. "Ich weiß, dass die Leidensfähigkeit der Österreicherinnen und Österreicher strapaziert wurde, auch zum Teil überstrapaziert wurde", hieß es. Jetzt sei alles vergessen: "Was lange währt, wird endlich gut. Was Anfang Jänner noch nicht möglich war, sei jetzt möglich, denn die Parameter seien andere: "Herbert Kickl ist krachend gescheitert" und die geopolitische Situation habe zu einem neuen Anlauf geführt.
Habe sich Babler nach der Kritik an seiner Person in zwei Monaten so sehr verändert? Er blicke nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft, so der Vizekanzler, es habe "einen Prozess gebraucht, man hat gesehen, was drohen könnte, wenn Herbert Kickl tatsächlich Bundeskanzler wird und dass das keine gute Konstellation für Österreich ist". Musste Stocker aber erst in direkten Koalitionsgesprächen draufkommen, dass Kickl ein von ihm bezeichnetes Risiko sei? Es sei keine "Ehrenrunde", "manchmal darf man in einer Geschichte ein Kapital nicht auslassen, damit die Geschichte insgesamt wieder stimmt", so Stocker.
Stocker habe in vielen Gesprächen gemerkt, dass sich die Menschen am wenigsten Neuwahlen gewünscht hätten, so der Kanzler. Die Bürger hätten eine verantwortungsvolle, handlungsfähige Regierung haben wollen, da sei es unverantwortlich, wenn man nicht alle Möglichkeiten abseits von Neuwahlen ausloten würde, so Stocker. Er sei natürlich Kanzler für alle Menschen in Österreich, nicht nur für die ÖVP-Wähler. Sei er der bestgeeignete Bundeskanzler in diesen schwierigen Zeiten? "Es wird vielleicht manche geben, die das anders sehen, es wird andere geben, die das schon so sehen." Er mache es "mit Freude und großem Respekt", so Stocker.
Es werde die Zukunft zeigen und die Bewertung, er werde sein Bestes geben, so der Kanzler. Wie auch Stocker habe Meinl-Reisinger wenig Erfahrung am europäischen Parkett, merkte Moderatorin Schnabl an, sei das wirklich die bestaufgestellte Mannschaft für Österreich? Sie habe "unglaubliche Kompetenz" in ihrem Ministerium gesehen, "natürlich muss ich lernen, keine Frage", so Meinl-Reisinger. "Aber ich weiß, dass das ein wirklich gut aufgestelltes Haus ist und ich habe gespürt, dass ich auch volle Unterstützung bekommen werde".
Sei das Verständnis von Neutralität nicht vollkommen überholt, spätestens seit Freitag, als US-Präsident Donald Trump dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski mit der Einstellung aller US-Hilfen im Ukraine-Krieg gedroht hatte? Die Neutralität sei "ein großes Gut, mit dem man verantwortungsvoll umgehen soll", so Babler, da gebe es natürlich auch die Verantwortung, nachzudenken, welche Rolle ein neutraler Staat in einer veränderten geopolitischen Situation spielen könnte. "Für mich ist die Neutralität ein guter Wegbegleiter der österreichischen Geschichte, auch der jüngeren Geschichte."
"Ja, in vielen Punkten würden wir andere oder weitergehende Positionen haben, auch in anderen Bereichen der Sicherheitspolitik, aber wir haben uns auf ein gemeinsames Programm geeinigt", so Meinl-Reisinger, aus deren Partei Stimmen laut wurden, dass die Neutralität obsolet sei. Ein "glasklares Bekenntnis" gab die neue Außenministerin zur europäischen Solidarität ab, "denn gemeinsam sind wir stärker", hieß es. Die Österreicher würden nicht wollen, "dass wir uns in Kriege und Konflikte einmischen, die uns nichts angehen, aber der Krieg in der Ukraine geht uns etwas an", es gehe um die österreichische und europäische Sicherheit.
Es sei laut Meinl-Reisinger "geradezu grotesk zu glauben, dass wir alleine, isoliert, als kleines Land in einer Zeit, in der die gesamte, regelbasierte Welt- und Friedensordnung nicht mehr eingehalten wird, auf einmal das Recht des Stärkeren gilt, dass wir da alleine reüssieren können oder in irgendeiner Weise unsere Interessen vertreten. Das kann nur ein starkes Europa und das ist ein klares Programm in diese Richtung". Seien da Stockers Pläne, das Heer um Milliarden aufzurüsten, angesichts der Budgetlage nicht "vollkommen unrealistisch?", fragte Moderator Wolf beim Bundeskanzler nach. Müsse man nicht die Sicherheit eines Bündnisses suchen?
"Das würde an den erforderlichen Mitteln nichts ändern", so Stocker, und schützen würde Österreich die Europäische Union durch die Beistandsverpflichtung. Die Neutralität sei davon zu trennen, dass man glaube, wenn man die Neutralität nicht mehr hätte, andere Verteidigungs-Aufwendungen tätigen müsse. "Wir haben uns vielleicht zu lange in Sicherheit gewogen", gestand der Kanzler jedoch ein, in die Verteidigung werde aber nicht nur Österreich mehr Geld stecken müssen, "sondern ganz Europa". Sky Shield sei ein Thema, darüber hinaus sei des so, dass "die Neutralität uns nicht daran gehindert hat, uns selbst zu verteidigen".
Das Regierungsprogramm zeige viele Überschriften ohne Details, viele davon seien "unter Vorbehalt" wegen des Budgetlochs, und gleichzeitig bilde der Kanzler eine noch größere Regierung als die bisherigen. Welches Bild gebe das in einer solchen Zeit ab, wollte Wolf wissen – Stickwort "TeuRaZ", "Teuerste Regierung aller Zeiten". "Wenn Sie mit der Größe einer Regierung das Budget sanieren wollen, dann viel Glück", so Stocker angriffig. "Bei allen Herausforderungen, die uns gegenüberstehen, ist die Länge der Regierungsbank die kleinste." Es habe größere Regierungen gegeben und das Aufgabengebiet habe sich immens erweitert, argumentierte der Kanzler.
"Ich finde, diese Diskussion ist sehr Klein-Klein", so Stocker dazu, dass Wolf die neu geschaffenen Staatssekretariate ansprach. "Die Frage ist doch, ob eine Regierung funktioniert, nicht wie viele Mitglieder sie hat." Meinl-Reisinger sprang Stocker bei, es gehe im Endeffekt um Bürokratieabbau und Deregulierung, "ja, wir wollen entlasten". Weiter zur SPÖ, die überraschend das Finanzministerium bekommen habe – sei dafür Markus Marterbauer, der vor wenigen Tagen noch das Sparprogramm kritisiert hatte, der Richtige, dieses als Finanzminister nun umzusetzen? "Der beste Vorschlag", so Babler, er gehöre zu den führenden Experten.
Ein zusätzliches Sparpaket oder gar neue Steuern seien aus derzeitiger Sicht nicht notwendig, doch "wenn neue Zahlen kommen, werden wir darüber reden müssen", so der Kanzler. Es gelte, ein Überdefizitverfahren zu vermeiden, so Stocker, deshalb habe man sich auf die gemeinsamen Maßnahmen geeinigt, "es heißt sparen, das ist sehr ambitioniert, was wir uns da vorgenommen haben". Und wenn das nicht ausreiche? Dann werde man das gemeinsam erörtern, so Babler, "aber jetzt gehen wir davon aus, dass die Zahlen auch halten können".
Man habe sich darauf verständigt, dass der Klimabonus nicht mehr komme und trotzdem Pendler zu entlasten, so der Vizekanzler, es gebe "eine Vielzahl von Förderungen, die zu evaluieren sind", ohne dass der Klimaschutz verloren gehe. Greife er das Dieselprivileg an? Er ziehe sich "auf das zurück, auf das wir uns geeinigt haben", so Babler, was auf dem 210-seitigen Regierungsprogramm festgehalten sei, "dazu stehe ich". Und was wurde aus der von den NEOS versprochenen Pensionsreform? "Wenn das ein 100 Prozent NEOS-Programm wäre, wäre das anders", so die Außenministerin, das Regierungsprogramm gehe aber weiter, als es noch im Jänner der Fall war – und es werde gesetzlich ein "Nachhaltigkeitsmechanismus verankert".
Den Familiennachzug wolle die Ampel "sofort" auf null stellen, Stocker pochte im Gegensatz zu Wolf darauf, dass das rechtlich möglich sein solle. "Vielleicht muss man auch darüber nachdenken, ob nicht die Staaten selbst am besten beurteilen können, ob die Systeme überlastet sind", so der Kanzler. "Wir setzen den Familiennachzug vorübergehend mit sofortiger Wirkung aus. Sofort heißt jetzt." Man habe gesehen, was los sei, wenn der Familiennachzug eine Dimension annehme, der die Systeme überlaste, so Stocker, etwa im Bildungsbereich in Wien. Allenfalls werde "es notwendig sein", auf europäischer Ebene Veränderungen zu treffen.
"Sie erleben das tagtäglich, dass es nicht funktioniert", so der Kanzler, man könne den Menschen "nicht vorspielen, alles eitel Wonne". Jene Menschen, "die jetzt bei uns sind", müsse man so gut ins Bildungssystem integrieren, "dass wir diese Situation bewältigen können". Es habe "keinen Sinn, wenn wir unsere Bildungssysteme, unsere Integrationssysteme überlasten und letztlich auch darunter leiden", so der Kanzler. Das sei für Menschen, die nach Österreich kommen, nicht gut, aber auch für jene, die in Österreich seien, nicht gut. Gleichzeitig müsse man mit Integrationsmaßnahmen und Zugang zum Arbeitsmarkt versuchen, dass Menschen, die nach Österreich kommen würden "Steuern zahlen und nicht Steuern kosten", so Babler.
Auch die Zahl der Asylanträge solle auf null gesenkt werden, doch wie? "Keiner in Österreich will mehr eine Situation wie 2015 erleben", so Meinl-Reisinger. Man werde sich "anschauen", ab welcher Zahl man keine Asylanträge mehr annehme, so die neue Außenministerin. "Wir haben sehr viele aufgenommen, wir haben eine enorme Integrationsleistung geleistet." Sprung zur Sicherheit: Die Sicherheitsbehörden müssten genug Mittel für eine Terrorbekämpfung bekommen. "Nicht blind sein" gegenüber Gefährdern, aber keine Massenüberwachung, hieß es.
Zum ersten Mal habe man eine wirksame Maßnahme gegen die Teuerung, die wirklich helfe, eine Mietbremse, so Babler, der ortete, dass die wichtigsten Vorhaben jeder Partei ins Regierungsprogramm gegossen seien. Weiter zu Kindern: Das zweite verpflichtende Kindergartenjahr gilt als unfinanzierbar. "Wir haben überall eine Knappheit, wir müssen damit umgehen", so Meinl-Reisinger, es gehe "nicht von heute auf morgen". Man könne erste Schritte gehen, es gehe aber auch darum, die Arbeitsbedingungen der Pädagogen zu verbessern. Lacher am Ende: Auf die Frage, wie lange die Regierung halten werde, schmunzelte der Kanzler. Erst sei gefragt worden, wann man endlich eine Regierung habe, nun werde gefragt, wann diese wieder vorbei sei.