Markus P. (29) kennt den Alltag im Einzelhandel – wenig Personal, viele Kunden, Stress von früh bis spät. Doch was er an einem scheinbar ganz normalen Nachmittag im Sportgeschäft erlebte, hat ihn bis heute nicht losgelassen. Es war gegen 16 Uhr, das Geschäft gut besucht, und Markus versuchte gerade, drei Kund:innen gleichzeitig zu betreuen. Inmitten dieses Chaos betrat ein Mann auffällig ruhig die Umkleidekabine.
"Er ist an mir vorbeigegangen und hat mich dabei so schräg angegrinst. Ich hatte sofort ein komisches Bauchgefühl, aber keine Zeit, mich näher damit zu befassen", erinnert sich Markus. Erst einige Minuten später, als der Kunde längst wieder draußen war, sollte sich dieses Gefühl bestätigen – und zwar auf die widerlichste Weise.
Als Markus an der Kabine vorbeigeht, kommt ihm sofort ein beißender Geruch entgegen. Er öffnet vorsichtig die Tür – und kann kaum fassen, was er sieht: Der Boden ist nass, es riecht stark nach Urin. "Es war sofort klar: Der hat einfach reingepinkelt. Da war nichts missverständlich. Kein Kind, kein Unfall – das war pure Absicht."
Für Markus war das nicht einfach nur ekelhaft. Es war demütigend. Er war der Einzige, der die Sauerei bemerkt hatte. Und am Ende auch der Einzige, der überhaupt reagieren musste. "Ich stand da und wusste gar nicht, wohin mit meiner Wut. Nicht nur, weil jemand so respektlos war – sondern weil ich wusste: Ich bin komplett allein damit."
Markus meldet den Vorfall – doch wie so oft im Handel, bleibt die Antwort ernüchternd. Eine Kamera? Fehlanzeige. Alarmknopf? Gibt’s nicht. Konsequenzen? Keine. "Die Filialleitung hat nur gemeint: 'Tja, kann man nix machen.' Ich war sprachlos." Dieser Satz, dieses Schulterzucken – das war es, was Markus noch mehr zu schaffen machte als der Vorfall selbst. "Es war nicht der Urin, der mich fertiggemacht hat – sondern dieses Gefühl, dass es einfach allen egal ist. Dass sowas eben passiert. Und man halt weitermacht."
Für Markus war dieser Tag ein Wendepunkt. "Ich hab’s lang ausgehalten. Ich hab mich bemüht, nett zu bleiben, freundlich zu beraten. Aber irgendwann brichst du innerlich zusammen, wenn du ständig merkst: Du bist hier nur der Prellbock."
Der Pinkel-Vorfall war für ihn nur das offensichtlichste Beispiel. "Es gibt keine Wertschätzung, keine Unterstützung, keine Sicherheit. Du wirst angeschrien, beleidigt, teilweise bedroht – und niemand schützt dich. Und wenn du dann überfordert bist, heißt’s: Reiß dich zusammen."
Die Gewerkschaft GPA schlägt seit Jahren Alarm: Immer mehr Beschäftigte im Handel berichten von Beschimpfungen, Belästigung und Übergriffen. Mehr als jede*r Zweite hat bereits Gewalterfahrungen gemacht. Die GPA fordert verpflichtende Mindestbesetzungen, Gewaltschutzbeauftragte, psychologische Betreuung.
Doch von der Wirtschaftskammer kommt nur Ablehnung. Die Forderungen seien nicht umsetzbar – und laut WKÖ seien ohnehin 79 Prozent der Beschäftigten mit ihrer Arbeit zufrieden. Markus kann darüber nur den Kopf schütteln. "Diese angebliche Zufriedenheit hat nichts mit der Realität zu tun. Die meisten funktionieren einfach nur noch. Weil sie keine Wahl haben."
Mittlerweile hat Markus den Handel verlassen. Der Vorfall in der Kabine war der letzte Auslöser – aber eigentlich war es ein schleichender Prozess. "Ich mochte den Kontakt mit Menschen. Ich wollte helfen, beraten, ein gutes Gefühl vermitteln. Aber irgendwann konnte ich das nicht mehr, weil niemand mir das Gefühl gab, dass ich als Mensch zähle."
Heute redet er, weil andere schweigen. Und weil er hofft, dass sich durch Offenheit etwas ändert. "Ich erzähl das nicht, um zu schockieren. Ich erzähl’s, weil ich weiß, dass viele genau solche Dinge erlebt haben – und trotzdem jeden Tag die Klappe halten müssen."