Paul Scharner war der Fußball-Revoluzzer in Österreich. "Position Querdenker" nannte der 40-fache Nationalspieler den Titel seiner Autobiografie. Bei der Austria lehnte er sich gegen den späteren Weltmeister-Trainer Jogi Löw auf, im Nationalteam streikte er später unter Marcel Koller, kritisierte er bereits als Aktiver die ÖFB-Strukturen.
Scharner war erfolgreich. Als England-Legionär gewann er mit Wigan Athletic den FA-Cup – so wie jetzt Oliver Glasner als Trainer. In Österreich wurde er Meister und Cupsieger mit der Austria.
In Deutschland spielte er für den HSV, seine erste Auslandsstation war in Norwegen. Bei Brann Bergen wurde er 2005 zum Spieler des Jahres gekürt, verspielte er den Meistertitel, holte dafür den Cup. In Bergen kam auch sein Sohn Benedict zur Welt, der heute für Liefering in Liga zwei spielt.
Heute analysiert Scharner als TV-Experte auf Canal+ das Duell um die Champions-League-Millionen zwischen Bodö/Glimt und Sturm. Zuvor bat ihn "Heute" zum Interview.
"Heute": Sturm trifft heute auf Bodö/Glimt. Was ist die erste Erinnerung an Norwegen?
"Regen! Es war rau, eine Herausforderung. 2005 war in Norwegen das regenreichste Jahr. Es hat knapp 300 Tage geregnet. Für meine Einstiegs-Pressekonferenz habe ich einen Satz auswendig gelernt: Jeg elsker a leke i regnet – ich liebe es bei Regen zu spielen. Alle haben gelacht. Bei meinem ersten Match hat es dann wie aus Schaffeln geschüttet. Ich war mir sicher, das wird heute nichts. Aber der Schiri meinte nur, der nasse Boden ist für beide gleich. Wir haben dann Wasserball gespielt."
Klingt nach Abenteuer.
"Im Juli hatte ich dann zwei Wochen Urlaub. Ich wollte mich in Österreich einfach nur in die Sonne legen. Dann hatte es bei uns 15 Grad und es hat auch geregnet. Zu den Auswärtsspielen in Norwegen sind wir immer geflogen. Es gibt dort keine Autobahnen, weil die Fjorde so tief in das Land hineinreichen."
Beim Spiel von Sturm in Bodö werden zwölf Grad und Regen erwartet.
"Perfekt für Bodö."
Warum?
"Daheim auf Kunstrasen sind sie ein europäischer Topklub. Für Sturm wird das eine Umstellung. Du musst exakt spielen. Der Ball ist so schnell, dass ein Millimeter Ungenauigkeit zu viel ist. Für Sturm wird es wichtig, halbwegs ein Ergebnis einzufahren."
Zuletzt gewann Bodö 30 von 38 Heimspielen im Europacup.
"Dabei ist das Stadion mit 8.000 Fans nicht groß, hat Dorfklub-Charakter. Es ist aber eine Festung. Ich habe dort auch schlechte Erfahrungen gemacht. Wir haben mit einem 0:1 bei Bodö den Meistertitel verspielt, weil wir im Kopf nicht so weit waren. Heute dominiert Bodö – fast schon wie Rosenborg Trondheim in seiner Glanzzeit. Sie haben eine klare Philosophie: kein Über-Star, der norwegische Weg, aggressives Angriffspressing, schnelles Umschalten, Vollgas."
Österreichs Klubs enttäuschten zuletzt im Europacup.
"Salzburg hat definitiv einen Schritt zurück gemacht. Seit dem Abgang von Christoph Freund fehlt mir die Linie. Es passt vieles nicht mehr zusammen. Das merkt man auch im Nachwuchs. Die U18 wurde zuletzt auch nicht mehr Meister, sondern von der Austria abgelöst. Allgemein gefällt mir die Tendenz zu vielen Legionären in der Liga nicht. Es bleiben viele Talente auf der Strecke. In Dänemark oder Norwegen ist das anders."
Wie beurteilen Sie als Ex-Veilchen die Lage bei der Austria?
"Es ist schwierig. Die letzte Saison war gut, am Ende waren dennoch alle enttäuscht – Spieler und Fans. Gleichzeitig sind die Erwartungen enorm gestiegen. Jetzt geht auch noch Fitz nach dem Fehlstart. Man darf nicht vergessen: Er hatte auch heuer schon wieder zehn Scorerpunkte in acht Spielen. Nur: Wo ein Loch aufgeht, entsteht auch die Chance, dass ein Neuer dieses Loch ausfüllt. Das schließe ich bei Fitz und der Austria nicht aus."
Rapid und Peter Stöger – passt, oder?
"Stöger hat schon als Spieler gezeigt, dass er beides kann – Rapid und Austria. Ich könnte das nicht. Ich hatte bei meiner Zeit in Birmingham als West Bromwich-Profi ein Angebot von Aston Villa. Ich konnte nicht zusagen, da bin ich altmodisch. Bei Stöger und Rapid gibt es die Tendenz, dass es greift und der Meistertitel ein Thema wird. Das liegt an Stögers Person. Er ist ein Ruhepol, der den Umgang mit Mitmenschen in einem emotionalen Umfeld beherrscht. Das ist Führung."
Wäre die Meistertitel-Chance mit Marko Arnautovic noch größer gewesen?
"Marko wollte noch einmal daheim spielen. Mich hat es als Spieler immer aufgeregt, dass auf seinen Fußballschuhen die österreichische und die serbische Flagge war. Wenn ich für Österreich spiele, muss ich doch Farbe bekennen. Leistungsmäßig wird es jetzt spannend bei ihm. Er sorgt für außergewöhnliche Momente, aber die Zeiträume werden immer kürzer. Trotzdem haben wir – wenn Sasa Kalajdzic nicht topfit ist – keinen anderen Stürmer, der uns mit seinen Toren zur WM schießen kann. Das ist ein Problem. Das sollte man hinterfragen – vom ÖFB abwärts."
Warum ist das so?
"Meine Erfahrung im Nachwuchsfußball ist, 90 Prozent fangen offensiv an. Am Ende haben wir keinen Stürmer, aber viele Innenverteidiger. Ich hatte zwei Kinder in Akademien. Im 2005er-Jahrgang von Benedict gab es gute Stürmer, aber die Entwicklung passte nicht, weil die Ausbildung falsch läuft. Es ist viel zu strikt, die Spieler haben zu wenig Freiraum. Man kann beobachten, wie sie im Laufe der Jahre am Platz einschlafen, ihre Bewegungsfreiheit verlieren. Die Talente wissen immer weniger, was sie am Platz machen sollen. Haben Sie die Rede von Oliver Glasner nach dem FA-Cup-Triumph aus der Kabine gehört?"
Ja.
"Mir fiel auf: Am meisten hat sich Glasner nach dem Sieg gegen Liverpool bei seinen Stürmern für die tiefen Läufe bedankt. Zurecht. Tiefe Läufe sind das Wichtigste und im heimischen Fußball die Ausnahme. Ich war selbst Verteidiger. Ich hasste es, die tiefen Räume zu verteidigen. Gelingt dir das, dann gibst du den Raum davor auf. Und es entstehen dort Freiräume.“
Hätten Sie Glasner gern als Trainer gehabt?
"Ich hätte mir einen Trainer gewünscht, der so viel Glaube in sich hat wie Oliver. Ja, es ist möglich, als Kleiner die Großen zu schlagen. Speziell in einem Spiel. Glasner hat den Zugang zu den Spielern, er kommuniziert bodenständig auf Augenhöhe mit ihnen. Die fachliche Kompetenz haben heute ganz viele Trainer. Die Profi-Lizenz ist ja ähnlich intensiv wie ein Fachstudium. An der Spitze geht es um mehr: Es entscheidet die Menschenführung. In einer Mannschaft sind ganz unterschiedliche Typen und Kulturen."
Ihr Tipp: Wie geht es mit Glasner weiter?
"Die Herausforderung von Glasner ist jetzt, dass ihm seine Stars weggekauft werden. Crystal Palace hat aber das Kapital, um Ersatz zu finden. Das wird Glasner nicht aufhalten. Ein Freund von mir arbeitet bei Brighton im Scouting, die zeigen das vor: 60 Prozent vom Scouting läuft über die KI, 40 Prozent dann vor Ort, dann kommt der Mensch und der Charakter ins Spiel."