Italien hat ein großes Problem. Nach einer Justizreform sind Taschendiebstähle seit 1. Jänner 2023 kein Offizialdelikt mehr sondern ein Antragsdelikt. Das bedeutet, dass die Polizei selbst dann, wenn sie Zeuge eines Diebstahls wird, nicht einschreiten darf, solange keine Anzeige vorliegt.
In einer Touristenmetropole wie Venedig hat das ein ohnehin bereits riesiges Problem nur noch verschärft. Schon zuvor wurde der Polizei mangelndes Engagement bei der Bekämpfung der Langfinger in der Stadt vorgeworfen. Doch seit 2023 hat sie eine bequeme Ausrede dafür: Keine Anzeige, kein Verbrechen!
Und weil Touristen in den meisten Fällen kein italienisch sprechen und Tagestouristen sich nur selten die Mühe machen, die nächste Polizeistation aufzusuchen, ging die Zahl der angezeigten Taschendiebstähle in Venedig stark zurück – obwohl es nicht weniger Diebstähle gibt, sondern eher mehr.
Der Bürgermeister von Venedig, Luigi Brugnaro, kritisiert die Justizreform daher seit Anfang an. Er fordert ihre Zurücknahme oder zumindest eine Anpassung, was den Umgang mit Taschendieben betrifft. "Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass solche Delikte zum Alltag gehören und das Leben der Menschen sowie das Image der Stadt beeinträchtigen“, erklärte er im Juli in den italienischen Medien.
Bereits in den 90er-Jahren hatte in Venedig eine Lokalpolitikerin der rechtspopulistischen "Lega", Monica Poli (57), eine Bürgerwehr ins Leben gerufen, um Verbrechen zu bekämpfen. Mit dem Rückzug der Polizei aus der Bekämpfung der Kleinkriminalität kam ihrer rund 50 Mitglieder zählenden Gruppe "Cittadini non Distratti" („Nicht zerstreute Bürger“) seither wieder eine größere Rolle zu.
Sie heftet sich auf die Fahnen, für rund ein Drittel der festgenommenen Taschendiebe in Venedig verantwortlich zu sein. Drei bis sechs Stunden täglich verbringt die selbsternannte "Lady Pickpocket" mit Patrouillen auf den Straßen der Stadt, erklärte sie unlängst der New York Times. Für das Erkennen von Taschendieben habe sie "einen sechsten Sinn". Wenn sie einen Dieb – oft sind es junge Roma-Frauen aus Osteuropa – zu erkennen glaubt, ruft sie laut "Attenzione, borseggiatrici".
Längst dokumentieren sie ihre Aktionen auch mit ihren Handykameras, stellen die mutmaßlichen Verbrecher auf TikTok, YouTube & Co bloß. Auch Flugzettel mit Gesichtern der Verdächtigen hängen mitunter im Bahnhofsviertel, um vor ihnen zu warnen. Derartige Videos gibt es mittlerweil aus vielen Touristenmetropolen. Auch in Venedig sind weitere Personen aktiv, die mutmaßliche Diebe mit Videos im Internet bloßstellen wollen.
Nicht immer trifft es die richtigen und Kritiker werfen Bürgerwehr-Gründerin Poli auch vor, durch ihre rassistische Voreingenommenheit nur dunkelhäutige Angehörige der Volksgruppe der Roma ins Visier zu nehmen und damit Vorurteile zu verstärken. Ein Video, das eine US-Touristin zeigt, die eine mutmaßliche Diebin an ihren Haaren festhält, sorgte erst vor wenigen Wochen international für Schlagzeilen, Millionenclicks und heftige Debatten.
Das hat nun auch rechtliche Konsequenzen: Einige der von der Bürgerwehr öffentlich als Taschendiebe denunzierten Personen haben Klage eingereicht. Sie seien ohne Zustimmung gefilmt worden und rechtswidrig festgehalten worden. Auch "Stalking" lautet einer der Vorwürfe, da die des Diebstahls verdächtigten oft minutenlang durch die Altstadt verfolgt werden, um ihre "Arbeit" zu erschweren.
Der Polizeichef von Venedig, Marco Agostino, bestätigt: "Wir kennen das Problem", zitiert ihn Venezia Today, "aber Privatpersonen müssen wissen, dass sie nicht alles tun können. Der Staat hat das Gewaltmonopol, und die Regeln der Strafprozessordnung müssen eingehalten werden."
Absurderweise erschwert die Justizreform von 2022 nicht nur die Arbeit der Polizei sondern auch die der Bürgerwehren, die anstelle der Polizei einspringen wollen. Denn das "Jedermannsrecht", das besagt, dass auch normale Bürger einen mutmaßlichen Strafttäter, der auf frischer Tat ertappt wird, nur dann anhalten können, wenn das in Frage kommende Delikt auch strafrechtlich relevant ist. Und genau das ist Taschendiebstahl seit Jänner 2023 nicht mehr, erklärt Agostino.
Einen Taschendieb bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten ist in Venedig also genau so eine Überschreitung der Befugnisse eines Normalbürgers, als würden Bürger in Wien Autofahrer gegen ihren Willen festhalten, weil ihr Parkschein abgelaufen ist. Da es sich um kein Strafdelikt sondern um ein Verwaltungsdelikt handelt, gilt das "Jedermannsrecht" hier eindeutig nicht.
Im schlimmsten Fall, so Agostino über die Lage in Venedig, könnte es sich beim Festhalten mutmaßlicher Taschendiebe "um Entführung handeln, ein schweres Verbrechen." Aus diesem Grund gab es kürzlich ein Treffen der Polizei mit Vertretern der Bürgerwehr, um sie daran zu "erinnern", was getan werden darf und was nicht.