Künstliche Intelligenz ist dabei, Medizin vollkommen neu zu definieren. Sie kann heute pathologische Muster erkennen, Risiken quantifizieren, Diagnosen unterstützen – und das schneller und präziser als je zuvor. Ein Paradebeispiel für den Einsatz hochentwickelter KI-Systeme ist der Ganzkörperscanner zur Früherkennung von Hautkrebs in der Klinik Utoquai in Zürich.
Er entdeckt massiv mehr bösartigen Hautkrebs dank dem KI-Scanner, sagt Dermatologie-Professor Ralph Braun. Und er vermeidet gleichzeitig zahlreiche Operationen, die sich früher erst im Nachhinein als unnötig erwiesen hätten.
Das Prozedere geht ganz schnell. Ähnlich wie im Körperscanner am Flughafen stellt sich der Patient in ein Gehäuse und mit beiden Füßen auf markierte Felder – allerdings im Unterschied zum Flughafen ohne Kleider. Klinikleiter Dr. Braun gibt noch eine Anweisung zur richtigen Position der Arme, dann folgt ein kurzes Blitzgewitter. 92 Kameras, rund 400 Bilder in einer halben Sekunde, und schon ist der Patient integral kartografiert. Jede Pore, jedes Haar, jede noch so kleine Hautveränderung ist mikroskopisch festgehalten. Jetzt geht's ans Rechnen.
Während die Maschine die hochauflösenden Bilder zu einem 3D-Avatar zusammensetzt, untersucht Dr. Braun den Patienten: systematische Inspektion aller Körperpartien mit bloßem Auge, mit dem Tastsinn und vor allem mit dem Dermatoskop. Erst dann wird verglichen: Die KI macht eine Übersicht aller gefundenen Male, Narben und Veränderungen und kategorisiert sie nach Risikowahrscheinlichkeit. Sofort wird klar: Ein Mensch könnte das nie mit dieser Genauigkeit – und selbst wenn, dann würde die Untersuchung Stunden dauern.
Herr Braun, wie hat der KI-Scanner Ihren Alltag als Hautkrebs-Spezialist verändert?
Prof. Dr. Ralph Braun: Radikal. Das Gerät erkennt extrem schnell selbst kleinste Veränderungen an der Haut, die ich mit bloßem Auge nie alle wahrnehmen könnte. Besonders bei Patientinnen und Patienten mit vielen Muttermalen – oder bei schwer zugänglichen Stellen wie dem Rücken – ist das ein Gamechanger. Die Maschine hilft mir, nichts zu übersehen.
Fühlen Sie sich als Arzt nicht entmündigt von der KI?
Nein. Die Maschine funktioniert nicht allein, sondern als Unterstützungstool. Medizinische Literatur zeigt klar, dass die Kombination von Arzt und Maschine, wenn sie präzise eingesetzt wird, deutlich besser ist in der Diagnosegenauigkeit als entweder nur der Arzt oder nur die Maschine. Die KI ist auf dem Niveau eines sehr erfahrenen Hautarztes, aber was die KI nicht kann, ist Kontext. Sie hat ein Bild und macht eine Diagnose, aber sie weiß nicht, wie lange eine Läsion schon da ist oder ob sie sich verändert hat – das sind Informationen, die der Arzt beisteuert.
Die Maschine sieht jedes noch so kleine Detail. Besteht da nicht auch die Gefahr einer Überdiagnostizierung?
Das ist ein zentrales Thema. Die KI ist sehr empfindlich und zeigt auch kleinste Veränderungen an der Haut, die ein lebendiges Organ ist. Der Arzt muss diese Funde einordnen und beurteilen, was für den Patienten relevant ist. Aber die Bilanz ist eindeutig positiv: Seit wir die Maschine letzten Oktober in Betrieb genommen haben, entdecken wir massiv mehr bösartige Melanome in einem sehr frühen Stadium. Gleichzeitig können viel mehr unnötige Operationen verhindert werden, da bei unsicheren Befunden zunächst Verlaufskontrollen durchgeführt werden können. Ein Hausarzt lässt im Durchschnitt 15 gutartige Muttermale entfernen, um ein bösartiges zu erwischen. Bei einem Dermatologen liegt die Quote etwa bei 7 bis 10 zu eins. Meine lag früher bei etwa vier zu eins, heute ist sie nahezu eins zu eins. Das heißt, KI ist eine mächtige Waffe geworden im Kampf gegen die Hautkrebsepidemie.
Das sind sehr eindrückliche Zahlen. Wie reagieren Ihre Berufskollegen auf die neue Technologie?
Die Offenheit gegenüber dem Thema KI ist sicher da, aber das Problem ist, dass die Gesetzgebung und die Vergütungsmodelle der technischen Entwicklung extrem hinterherhinken. Es gäbe heute einfachere Scanner für 80.000 Franken (umgerechnet rund 85.000 Euro), die auch in Hautarztpraxen eine deutliche Verbesserung der Diagnosequote erzielen könnten. Aber das Vergütungsmodell für solche Scans wurde vor 20 Jahren definiert – für eine Technologie, die man mit dem heutigen Stand nicht mehr vergleichen kann. Das bedeutet, der Arzt hat keine Chance, einen solchen Scanner je zu amortisieren.
Aber all die verhinderten unnötigen Operationen und die Krebserkrankungen müssten doch bei Krankenkassen für maximales Interesse sorgen ...?
Das ist auch so. Die Scans sind zwar noch nicht von der Grundversicherung abgedeckt, aber die Versicherungen sind sehr aufgeschlossen und immer mehr nehmen die Leistung in ihre Zusatzversicherungen auf, da sie wissen, dass die Früherkennung günstiger als späte Operationen oder gar Systemtherapien bei metastasiertem Hautkrebs ist.
Sie sind ein KI-freundlicher Arzt. Gilt das auch dann, wenn sich Patienten selber mithilfe von KI zu diagnostizieren versuchen?
Jeder darf machen, was er will. Aber viele der im App-Store angebotenen Hautkrebs-Scanner sind nicht reguliert und schlicht gefährlich: schlechte Bildqualität, keine Kontextdaten, hohe Fehlerraten. Diese Apps können viel zu viele falsch-positive Befunde anzeigen oder sogar Hautkrebs nicht erkennen, obwohl sie ein CE-Zeichen haben. Die Maschine ist mächtig – aber sie ersetzt keine ärztliche Begleitung.
„KI ist eine mächtige Waffe geworden im Kampf gegen die Hautkrebsepdemie“Prof. Dr. Ralph Braun, Zürich
Früher galt der Google-Patient als Alptraum der Ärzte – gilt das auch für den KI-Patienten?
Ich sehe darin kein Ärgernis, sondern ein Symptom. Patienten googeln, wenn sie keine ausreichenden Informationen vom Arzt erhalten oder Angst haben. Wenn heute der KI-Patient ein Bild von einem Muttermal an ChatGPT schickt, weil er sich Sorgen macht, ist das nicht per se falsch. Er sollte mit dem Resultat einfach nicht alleine gelassen werden und sich auch nicht darauf verlassen.
In der Medizin zeichnet sich wie in vielen anderen Bereichen eine eigentliche KI-Revolution mit vielen Chancen, aber auch Risiken ab. Was wünschen Sie sich diesbezüglich von der Politik?
Die Politik sollte Technologien, die Geld sparen und menschliches Leid mindern, unterstützen. Zum Beispiel fordert die Politik extrem teure, über zehn Jahre dauernde Großstudien, um die Wirksamkeit neuer Technologien zu belegen. Ich wünschte mir eine unterstützendere Haltung, wie sie zum Beispiel die australische Regierung pflegt. Sie hat kurzerhand 15 dieser Ganzkörperscanner bestellt und im ganzen Land verteilt, besonders dort, wo es zu wenig Hautärzte gibt – ganz einfach, weil sie begriffen haben, dass es die Hautkrebsfrüherkennung massiv verbessert.
„Ärzte müssen sich der Herausforderung stellen und aus dem Thema lernen. Dann kann KI den Mangel an Dermatologen ausgleichen“Prof. Dr. Ralph Braun
Was wünschen Sie sich von den Ärzten?
Ärzte müssen sich der Herausforderung stellen und aus dem Thema lernen. Sie müssen KI als Unterstützungstool verstehen, nicht als Ersatz. Aber dafür müssen sie ihre Fähigkeiten in der Interpretation der KI-Befunde und deren Einordnung in den patientenspezifischen Kontext weiterentwickeln – dann kann KI nicht nur den Mangel an Dermatologen ausgleichen, sondern auch die Triage verbessern und generell die Versorgung der Patienten.
Und was wünschen Sie sich von den Patienten?
Während viele Patienten extrem sorglos mit ihren Daten umgehen, wenn sie im Internet recherchieren, sind sie sehr zurückhaltend bis ängstlich, wenn es darum geht, ihre Gesundheitsdaten in der Praxis elektronisch zu erfassen und so entweder diagnostisch oder für die Forschung auszuwerten. Es wäre in doppelter Hinsicht wertvoll für sie selber, wenn sie diese rational nicht erklärbare Verteilung von Misstrauen und Sorglosigkeit umkehren würden. Denn für die KI gilt erst recht: Je mehr Daten sie zur Verfügung hat, desto präziser kann die Diagnose werden. Aber es sollte eine gesicherte KI sein, die diese Daten abspeichert, nicht eine im Internet.