Gesundheit

"Hörte Stimmen und dachte, die Wohnung ist verwanzt"

Jens Jüttner erkrankte als junger Mann an paranoider Schizophrenie und hat darüber ein Buch geschrieben. "Heute" traf ihn zum Interview.

Sabine Primes
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Heute begleitet Jens Jüttner Betroffene auf ihrem Weg zur Genesung.
Heute begleitet Jens Jüttner Betroffene auf ihrem Weg zur Genesung.
Maria Stratmann

Er war 23 Jahre alt und mitten im Jus-Studium, als er begann das Verhalten seiner Mitmenschen zu analysieren und Blicke von anderen Menschen auf sich zu beziehen, erzählt Jens Jüttner: "Ich saß in der Bibliothek und hatte das Gefühl, die Leute würden mich ansehen und über mich flüstern", so der heute 45-Jährige. "Auch beim Einkaufen im Supermarkt, dachte ich darüber nach, was sich die Dame an der Kassa denn denkt, wenn ich das kaufe und wenn ich in der Fußgängerzone spazierte, hatte ich das Gefühl, die Leute würden sich nach mir umdrehen und flüstern, weil sie mich erkennen und alles über mich wissen."

"Meine Realität"

Jüttner sprach aber mit niemandem über diese Gedanken. Selbst zu Hause konnte er nicht entspannen. Denn er war davon überzeugt, seine Wohnung wäre verwanzt und Agenten würden ihn abhören: "Ich dachte, die wissen alles." Als er zusätzlich begann, Stimmen zu hören, "schob ich es auf die Nachbarn, die mal wieder etwas lauter seien und die Wohnung ja so hellhörig sei." Niemals hätte er gedacht, dass er sich das einbilde, denn "es war Realität - meine Realität." Parallel dazu begleitete den Deutschen eine ständige Anspannung und Unsicherheit. Trotzdem ging er weiter seiner Arbeit als Jurist nach, war verheiratet und kümmerte sich um seinen kleinen Sohn. Seine Frau war aufgrund ihres Berufs als Flugbegleiterin viel unterwegs. "Ab und an habe ich zu ihr gesagt, sie solle nicht so laut reden oder vom Fenster weggehen. Aber da dachte sie sich nichts dabei", erzählt Jüttner. "Erst als auch meinen Eltern meine dauernde Anspannung auffiel und ich auch Gesprächen nicht mehr aufmerksam folgen konnte, ging ich zur Psychiaterin." Die Diagnose: Paranoide Schizophrenie. 

Zurück ins Leben

Für Jens zunächst unglaublich, "aber als nach drei Wochen die Neuroleptika zu wirken begannen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, womit ich die letzten Jahre meine Zeit verbracht hatte." Die Stimmen in seinem Kopf verklangen und die Verfolgungsgedanken verschwanden. Seine volle Lebensqualität kam damit aber noch nicht zurück.

Weil Schizophrenie in Schüben auftritt, wechselten sich diese mit einer depressiver Symptomatik (Negativsymptomatik) ab. "Die Negativsymptome müssen nicht bei jedem Betroffenen auftreten, aber es kommt oft vor", erklärt Jüttner. Jeder Tag sei eine Qual gewesen, weil er sich zu nichts aufraffen oder motivieren konnte. Die Krux an der Sache: Antidepressiva, die bei Depressionen verschrieben werden, helfen im Falle dieser Symptomatik bei Schizophrenie nicht, weil die Ursache der depressiven Symptome eine andere ist. "Erst als ich später Mood Stabilizer verschrieben bekam, verbessert sich mein  Zustand rapide und der Lebenshunger kehrte zurück", schildert er.

Neuorientierung

Der Deutsche kündigt seinen Job als Rechtsanwalt und schreibt sein autobiografisches Sachbuch "Als ich aus der Zeit fiel". Darin erzählt er seine Geschichte und klärt über Mythen und Vorteile rund um psychische Erkrankungen auf. Zusätzlich macht er eine EX-IN-Ausbildung als Genesungsbegleiter. Dabei werden ehemalig psychisch Kranke in die Behandlung akut Kranker mit einbezogen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Als Schizophrenie-Betroffener kann Jüttner sich gänzlich in die Situation anderer Erkrankter hineinversetzen und "ich bin aus Patientensicht glaubwürdiger als jeder Arzt. So gelingt es mir, das Vertrauen der Erkrankten zu gewinnen - eine sehr schwierige Sache, vor allem, wenn dieser sich gerade in einer Psychose befindet." Mit rationalen Argumenten finde man dann so gut wie kein Durchkommen, erzählt der Autor. Heute arbeitet er mit jeder Form von psychisch Erkrankten - eine Arbeit, in der er Sinn sieht und die ihn erfüllt.

Jens' Erfahrungsbericht mit seiner Krankheit.
Jens' Erfahrungsbericht mit seiner Krankheit.
pinguletta Verlag

Wie mit einem Schizophrenen umgehen?

Angehörigen von Schizophrenen rät er, sich um das Vertrauen des Betroffenen zu bemühen und ihn so zu ärztlicher Betreuung zu bewegen. Die Thematisierung des Leidensdrucks des Kranken könnte noch am ehesten zum Erfolg führen, so Jüttner.  "Auf keinen Fall sollte man den Betroffenen sagen, dass das nicht stimmt, was sie zu sehen oder hören glauben. Denn das löst nur eine Abwehrhaltung aus und führt nirgendwo hin. Es kann den Betroffenen sogar in seinem Wahn bestärken." 

Nicht heilbar, aber gut behandelbar

Die Prognose des Krankheitsverlaufs ist individuell. Seit Schizophrenie-Patienten mit einer Kombination aus Neuroleptika und Psychotherapie behandelt werden, hat sich die Prognose der Krankheit deutlich verbessert. Circa 20 bis 25 Prozent der Patienten werden mit dieser Behandlung wieder ganz gesund. Aber auch wenn die Patienten nicht vollständig geheilt werden, reicht häufig eine ambulante Betreuung aus, um trotz der Schizophrenie ein weitgehend normales Leben zu führen. Manche Patienten erleben nur eine einzige akute Krankheitsphase, bei anderen ist der Verlauf schwerwiegend und mündet in eine chronische Schizophrenie. Wiederum andere haben immer wieder schizophrene Phasen, die Dank der Behandlung aber auch wieder abklingen. Meist werden die akuten Symptome im Laufe der Zeit schwächer, sodass manchmal sogar die Medikation abgesetzt werden kann.

Jens hat in Absprache mit seinem Arzt versucht, die Dosis schrittweise zu reduzieren - auf gerade soviel wie nötig. Ab einer gewissen Dosis merkt er, wie die Gedanken sich wieder anschleichen. Mittlerweile ist er medikamentös gut eingestellt und merkt von seiner Krankheit nichts mehr. Dennoch warnt er eindringlich davor, die Dosis eigenmächtig zu reduzieren oder die Medikamente ganz abzusetzen: "Das muss immer in Absprache mit dem behandelnden Arzt erfolgen. Sonst hat das unschöne Folgen, die ich auch selbst erlebt habe."

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