Seit Jahrzehnten gelten SOS-Kinderdörfer, das in Österreich und weltweit elternlosen oder in Not geratenen Kindern ein Zuhause bietet, als Symbol für Schutz und Geborgenheit. Nun erschüttern schwere Missbrauchsvorwürfe dieses Bild. Laut "Falter" berichten Betroffene von Schlägen, Essensentzug, Fixierungen und entwürdigenden Strafen. Zwei interne Studien dokumentieren Missstände in den Einrichtungen Moosburg (Kärnten) und Imst (Tirol) – und auch die Behörden sollen jahrelang weggesehen haben.
Eine Frau, die im SOS-Kinderdorf Moosburg aufwuchs, berichtet: "Sie hat mich mit allem verdroschen, was sie finden konnte, mit dem Teppichklopfer, mit dem Lineal, mit der flachen Hand, mit der Faust – ich hatte oft eine blutige Nase." Eine andere schildert: "Als ich mich zu Ostern an Schokolade überaß und erbrach, musste ich mein eigenes Erbrochenes essen."
Katharina, die seit ihrem vierten Lebensjahr in Moosburg lebte, spricht von einem Leben voller Gewalt. Heute ist sie selbst Mutter, kämpft mit Essstörungen und sagt: "Seit meiner Kinderdorf-Zeit bin ich abgestumpft, ich habe Probleme, Emotionen zu empfinden." Sie erhielt 2016 eine Entschädigung von 10.000 Euro – ein stilles Eingeständnis der Organisation.
Noch dramatischer ist der Fall von Natascha. Sie sagt: "Die Kinderdorfmutter hat mich fast täglich verdroschen." Ein Schlag soll so heftig gewesen sein, dass sich ihre Netzhaut löste. Seither ist sie auf einem Auge blind. Ein ärztlicher Befund aus 2003 bestätigt die Verletzung, ein direkter Zusammenhang ist nicht gesichert. Geld von SOS-Kinderdorf wollte sie nicht: "Ich will von denen kein Geld."
Die Vorfälle reichen laut interner Studie in Moosburg bis 2020. Dokumentiert sind Schläge, Freiheits- und Essensentzug. Das Papier wurde nicht veröffentlicht, sondern zurückgehalten. Auch in Imst, dem ersten SOS-Kinderdorf überhaupt, zeichnen Recherchen ein "Klima der Angst". Dort sollen Kinder fixiert, eingesperrt und gedemütigt worden sein.
SOS-Kinderdorf kündigte nach den Enthüllungen eine externe Kommission unter Leitung der früheren OGH-Präsidentin Irmgard Griss an. Ob die dokumentierten Vorwürfe strafrechtlich relevant sind, entscheidet die Justiz. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Die Imst-Studie beruht auf Hinweisen aus 2021. Ein pädagogischer Leiter soll ein Mädchen massiv verbal attackiert haben. In einem anderen Fall wurde ein Mädchen nach einer Vergewaltigung nicht geschützt, sondern unter Druck gesetzt. "Das Vorgehen damals war zweifellos falsch", räumt SOS-Kinderdorf ein.
2019 sollen ein Dorfleiter und ein Pädagoge einen Zehnjährigen gewaltsam fixiert haben – verboten in Österreich. SOS-Kinderdorf schreibt heute: "Es gelten verschärfte Melde-, Anzeige- und Aufsichtsstandards, regelmäßige Audits sowie verpflichtende Kinderschutzfortbildungen."
Offiziell heißt es von SOS-Kinderdorf: "Wenn der Schutz von Kindern verletzt wird, haben wir unsere Kernaufgabe nicht erfüllt. Das Leid, das Kinder in der Betreuung von SOS-Kinderdorf erfahren haben, macht uns zutiefst betroffen." Zur Moosburg-Causa: "Aus heutiger Sicht hätte eine Anzeige erfolgen müssen. Dass dies damals unterblieb, war ein Fehler."
Zum Fall Imst räumt man ein: "Nicht in allen Fällen" konnten Kinder geschützt werden. Die Trennung von Leitungspersonen im "guten Einvernehmen" sei ein Fehler gewesen.
Das Land Kärnten erklärte, man habe mehrfach kontrolliert und Meldungen geprüft. Doch laut Recherchen kam die Moosburg-Studie erst jetzt offiziell an. Auch die Jugendanwältin des Landes gesteht, Vorwürfe gegen eine Kinderdorfmutter seien "nicht ganz unbekannt" gewesen.
Die Oberstaatsanwaltschaft Graz hat nach den Enthüllungen die Staatsanwaltschaften beauftragt, die Vorwürfe zu prüfen. Auch in Tirol laufen Ermittlungen.