Von Militär "entführt"

ORF-Kameramann: Jetzt droht ihm sogar die Front

Seit sechs Tagen wird ein ORF-Kameramann vom ukrainischen Militär festgehalten. Trotz Kriegsverletzung soll der 53-jährige noch einmal an die Front.
Nick Wolfinger
11.09.2025, 19:55
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"Sie lassen niemanden rein. Keine Polizei, keine Rettung und auch keine Rechtsanwälte", ist die Lebensgefährtin von Andrij Neposedov verzweifelt. Seit sechs Tagen, als ihr langjähriger Lebensgefährte auf dem Weg zu Dreharbeiten mit ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz in Tarnopil vom Militär "entführt" wurde, hat Oleksandra Zizenkova ihn nicht mehr gesehen. Jetzt campiert sie vor dem Rekrutierungszentrum in der westukrainischen Stadt Ternopil und kämpft mit einem Anwalt gegen das in ihren Augen "korrupte" ukrainische System.

Bei Checkpoint vom Militär "entführt"

Von einer "Entführung" spricht sie deswegen, da die Bescheinigung der Wehrdienstbefreiung Neposedovs einfach ignoriert und er rechtswidrig zu einer Rekrutierungsstelle gebracht worden sei – ohne den Vorgang irgendwo zu dokumentieren. "Sie haben ihn tagelang von Militärposten zu Militärposten gebracht, um ihn in irgendeiner Einheit unterzubringen", ist sie in einem neuerlichen "Heute"-Telefoninterview am Donnerstag noch immer fassungslos über die Vorgänge in ihrem Land. Auch der ORF-Redaktionsrat protestierte am Mittwoch in einer Aussendung heftig und setzt sich für seine Freilassung ein. Sie sieht in der Festnahme des Medienmitarbeiters einen schweren Verstoß gegen die Pressefreiheit, was in einem Land, das der EU beitreten möchte, besonders schwer wiege.

Neposedov im Juni 2022 als Freiwilliger im Kriegseinsatz für die Ukraine in Lysychansk
Privat

Er soll – trotz Kriegsverletzung – erneut an die Front

Die Rekrutierungsstelle in Tarnopil versucht ihn nun dazu zu zwingen, sich erneut "freiwillig" zum Wehrdienst zu melden – "was er natürlich nicht machen will und nicht machen kann", erklärt Zizenkova. Die andere Möglichkeit, ihn ein zweites Mal einzuziehen, wäre die Erstellung eines neuen medizinischen Gutachtens. Dieses darf nicht verweigert werden, erzählt sie. Aber er hat, wie sie sagt, das "Recht, dieses Gutachten an seinem Heimatort anfertigen zu lassen". Und dieser ist Kiew. Dorthin wollen sie ihn allerdings nicht bringen, weshalb unklar ist, wie es weitergeht.

Er kämpfte als Freiwilliger – und verletzte sich schwer

Dabei hat Neposedov 2022 als Freiwilliger für die Ukraine gekämpft, sich bei einer Explosion dauerhafte Verletzungen zugezogen. Seither gilt er nach einem rechtsgültigen medizinischen Gutachten offiziell als wehrdienstunfähig und darf nicht mehr gegen seinen Willen eingezogen werden, sagt Zizenkova.

Neposedov nach seiner Entlassung aus dem Militärkrankenhaus, 2022
Privat

"Durch den ganzen Stress haben seine chronischen Schmerzen zugenommen", sorgt sie sich. Die ersten drei Tage seiner "Entführung" quer durch das halbe Land sei ihm die Medizin verweigert worden, sagt sie. Jetzt, in der Rekrutierungsstelle in Ternopil, sei es ein bisschen besser. Hier bekomme er wenigstens seine Medikamente – die sie ihm freilich persönlich beschaffen müsse und die er nur erhält, weil sie sich mit einigen der "verständnisvollen" Aufpasser gutgestellt hat.

"Manchmal verliert er die Hoffnung"

Dennoch, sagt sie im "Heute"-Gespräch: "Manchmal verliert er die Hoffnung". "Er fragt mich jedes Mal, wenn wir telefonieren, ob es Neuigkeiten von draußen gibt." Anders als in den ersten Tagen habe er nun wieder ganz legal Zugang zu seinem Handy. Nur aufladen kann er es dort nicht. "Es gibt keine Steckdosen", so Zizenkova. Sie hat ihm nun eine Powerbank zukommen lassen. Er hat nun sogar wieder Zugang zum Internet. "Als er auf Facebook Meldungen über seine Entführung gesehen hat, musste er sogar ein bisschen lachen", freut sich Zizenkova über den aufkeimenden Hoffnungsschimmer in seinen Augen.

Andrij Neposedov mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Oleksandra Zizenkova
Privat

Fall liegt nun bei Gericht

Mit einem Anwalt versucht sie seit Tagen, ihren Mann freizubekommen. 11 Anzeigen wegen Entführung und Freiheitsentzug hat sie in den verschiedenen Städten, in die ihr Mann zwischenzeitlich gebracht wurde, bereits gestellt. Die Polizei nehme ihre Anzeigen zwar auf, bleibe dann aber untätig, kritisiert sie. Daher hat sie am Donnerstag auch gegen die Polizei eine Anzeige wegen "Untätigkeit" bei Gericht eingebracht. Dieses entscheidet in der Regel innerhalb von drei Tagen.

"Ich erwarte mir, dass die Polizei jetzt endlich Bewegung in die Geschichte bringt", bleibt sie optimistisch. Sicherheitshalber will sie am Freitag noch vier weitere Anzeigen gegen Polizei und Militär einbringen.

Große Welle der Solidarität

Aber so wie sich die Lage aktuell darstellt ist das einzige, was ihrem Lebensgefährten wirklich hilft, medialer Druck. Nachdem der ORF in Österreich die Festhaltung seines Kameramannes am Mittwoch mit einer OTS-Aussendung öffentlich gemacht hat ging alles "sehr schnell", ist Zizenkova positiv überrascht. "Fast jede ukrainische Zeitung hat heute über diesen Fall geschrieben, das ist wirklich eine große Welle der Solidarität. Es war in jedem Telegram-Kanal", zeigt sie sich dankbar über die Anteilnahme der Presse.

"Sie sollen sich einfach entschuldigen"

Wie es nun weitergehen soll? "Für mich sieht es so aus", holt Zizenkova kurz aus: "Das beste wäre, wenn sie jetzt sagen 'Wir entschuldigen uns für die Sache, du kannst gehen'". So könnten sie den Fall gesichtswahrend abschließen. Denn: "Wenn sie nicht so klug sind", setzt sie fort, werde der Druck auf Polizei und Militär mit den weiteren Eingaben bei Gericht und der medialen Berichterstattung nur noch zunehmen. "Ich habe einen Spitzenanwalt, er gewinnt 75 % aller Fälle", will sie den letzten Funken Hoffnung an den Rechtsstaat noch nicht ganz begraben.

Die Angaben der Frau lassen sich nicht unabhängig prüfen.

{title && {title} } NW, {title && {title} } Akt. 15.09.2025, 13:15, 11.09.2025, 19:55
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