"Sehr geehrter Herr Kommissar Jørgensen, die aktuellen Entwicklungen in Tschechien müssen ein Weckruf für die europäische Energiepolitik sein" – so fängt der Protestbrief von Niederösterreichs Landeshauptfrau, Johanna Mikl-Leitner, an EU-Energie-Kommissar Dan Jørgensen an. Die Politikerin bezeichnet darin den geplanten Ausbau des Atomkraftwerks im tschechischen Dukovany als "europäisches Sicherheitsrisiko ersten Ranges".
„Wir Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher sind überzeugte Europäer, gleichzeitig lieben wir unsere Heimat und wollen diese vor Gefahren bestmöglich schützen.“Johanna Mikl-LeitnerLandeshauptfrau in Niederösterreich
Im besagten Ort, nur wenige Kilometer von der niederösterreichischen Grenze entfernt, sei die nächste Bauphase für neue Reaktorblöcke eingeleitet worden – "mit einem Reaktortyp, der weltweit noch nie realisiert wurde", schreibt Mikl-Leitner.
"Aufgrund dessen wende ich mich mit einem dringenden Appell an Sie - es ist auch eine Frage des europäischen Zusammenhalts, wenn im Herzen Europas Energieprojekte ohne Widerspruch aus Brüssel vorangetrieben werden können, obwohl sie viele EU-Bürgerinnen und Bürger potentiell gefährden und ihnen auch Angst machen", heißt es in dem Schriftstück weiter.
„Europa beschreitet einen gefährlichen Irrweg, wenn es die Atomkraft als Zukunftstechnologie fördert.“Johanna Mikl-LeitnerLandeshauptfrau in Niederösterreich
Dann die klare Ansage: "Dieses Hochrisiko-Experiment direkt vor der Haustür tausender Menschen in Niederösterreich müssen wir gemeinsam verhindern. Daher fordere ich Sie auf, umgehend alle Mittel einzusetzen, um diesen Ausbau zu stoppen - und zwar so rasch wie möglich und nicht erst, wenn der Beton bereits gegossen ist."
Die Atom-Realität sei eindeutig, sagt Mikl-Leitner, denn nach wie vor sei die Endlagerfrage für hochradioaktive Abfälle ungelöst. Gleichzeitig seien die Baukosten für ein AKW enorm und würden, ebenso wie die Abfälle, künftige Generationen belasten. Bei einer Bauzeit von 15 Jahren und mehr sei es überdies zu spät, um einen Beitrag zur aktuellen Energiekrise zu leisten.
"Atomkraftwerke sind störanfällig, nicht kriegssicher und stellen ein dauerhaftes Risiko für Umwelt und Bevölkerung dar", schreibt Mikl-Leitner zusammenfassend. Sie ist sich sicher: "Europa beschreitet einen gefährlichen Irrweg, wenn es die Atomkraft als Zukunftstechnologie fördert."
Wie Mikl-Leitner, kritisiert die Umweltschutzorganisation Global 2000 das Projekt in Dukovany, das nur 31 Kilometer vor der österreichischen Grenze entfernt liegt, schon lange. Auch die Millionenstadt Wien liegt gefährlich nahe. Global 2000 schreibt: "Die vier Reaktorblöcke, etwa 100 km nördlich von Wien, gingen zwischen 1985 und 1987 ans Netz."
Die bestehenden Reaktoren seien sowjetische Modelle, die über kein sogenanntes Containment verfügen. Es fehle also ein "Sicherheitsbehälter, der den Reaktordruckbehälter umschließt und so im Störfall die Umwelt vor Verstrahlung schützt." Zudem verfügten die Reaktoren über keine zweite Kühlquelle. Während eines Ausfalls der Kühlung gäbe es lediglich den kleinen Fluss Jihlava, der jedoch nicht ausreichend Kühlwasser liefern könne.
Russlands Angriffskrieg hat auch in Tschechien einiges in Bewegung gebracht: "Im Frühjahr 2022 hat die tschechische Regierung eine Ausschreibung für den Neubau von zwei zusätzlichen Reaktorblöcken gestartet", erklärt Global 2000: "Nachdem zunächst der russische und der chinesische Atomkonzern aus sicherheitspolitischen Gründen ausgeschlossen wurde, bleiben nur drei Anbieter weltweit, bei denen noch dazu fraglich ist, ob sie technisch und wirtschaftlich überhaupt in der Lage sind, einen Reaktor in der gewünschten Zeit und zum gewünschten Preis zu bauen."
Im Katastrophenfall würden weite Teile Österreichs verstrahlt werden. Global 2000 sagt deshalb: "Die bestehenden vier alten Reaktoren gehören stillgelegt, die Neubaupläne sind unvollständig, unschlüssig und unnötig." Mit ihrem Protestbrief verleiht Mikl-Leitner jetzt der anhaltenden Kritik zahlreicher Umweltschutzverbände und der Zivilgesellschaft weiteres Gewicht.
Die ÖVP-Politikerin hat klare Vorstellungen für den europäischen Energiesektor: "Wir müssen den Fokus noch stärker auf erneuerbare Energien legen. Niederösterreich wird weiterhin auf allen politischen Ebenen entschieden gegen den Ausbau der Atomkraft in Grenznähe auftreten und sich für strengste Sicherheitsstandards einsetzen." Energie-Kommissar Jørgensen fordert sie auf, seine "Handlungsmöglichkeiten in diesem Sinne voll auszuschöpfen."