Die ukrainische Bevölkerung friert – es dürfte tatsächlich der bislang schlimmste Winter seit Kriegsbeginn werden. Ausgerechnet jetzt ist ein Korruptions-Skandal rund um den Energiesektor ans Licht gekommen. Die Empörung im Land ist entsprechend groß, Präsident Selenskyj macht keine gute Figur. Wirkt der Skandal sich auch auf die Unterstützung des Westens aus? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Eine Gruppe – aktuelle und ehemalige ukrainische Minister sowie ein bekannter Geschäftsmann – soll aus dem ukrainischen Energiesektor umgerechnet etwa 86 Millionen Euro zweckentfremdet haben. Dafür wurden Verträge des staatlichen Energiebetreibers Energoatom manipuliert, um Schmiergelder von 10 bis 15 Prozent des Vertragswerts zu kassieren. Das Geld wurde über ein geheimes Büro in Kiew gewaschen. Fünf Verdächtige wurden festgenommen, zwei sind aus der Ukraine geflohen.
So hieß die Operation der staatlichen Antikorruptionsbehörden der Ukraine – das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAPO). Im Rahmen dieser Operation wurde während 15 Monaten gegen die Energieministerin, den Justizminister, einen ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten sowie gegen den Geschäftsmann Timur Mindich ermittelt. Die Verdächtigen seien 1.000 Stunden lang abgehört worden, berichten ukrainische Medien. Während der "Operation Midas" wurden Taschen voller Bargeld beschlagnahmt.
Nicht nur, weil es erscheint, als habe er den Laden nicht im Griff – zu den Drahtziehern gehören auch enge Vertraute des Präsidenten. Allen voran Timur Mindich (46), der Miteigentümer der Produktionsfirma Kvartal 95, die Selenskyj noch zu seiner Zeit als Entertainer gegründet hatte.
Zumindest nicht direkt. Selenskyj begrüßte diese Woche die Ermittlungen und erklärte, dass Strafmaßnahmen richtig und nötig seien. Er forderte maximale Transparenz im Energiesektor und erklärte, dass er jede Untersuchung voll und ganz unterstütze. Allerdings hatte Selenskyj diesen Sommer versucht, die Unabhängigkeit von NABU und SAPO aufzuheben und sie der Generalstaatsanwaltschaft zu unterstellen. Das löste die ersten großen regierungsfeindlichen Proteste seit Kriegsbeginn aus und kostete Selenskyj viel Goodwill in der Bevölkerung.
Geschäftsmann Timur Mindich aus Dnipro. Seit Selenskyj 2019 zum Präsidenten gewählt wurde, habe dieser finanzielle Interessen in mehreren Branchen aufgebaut, schreibt das Magazin "Politico". Laut Staatsanwaltschaft hat Mindich "Kontrolle über die Anhäufung, Verteilung und Legalisierung von Geldern ausgeübt, die er durch kriminelle Handlungen im Energiesektor der Ukraine erlangte". Mindich wird zudem verdächtigt, Entscheidungen hoher Regierungsbeamter beeinflusst zu haben – etwa von Ex-Verteidigungsminister Rustem Umerow, der mittlerweile den nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat leitet.
Gegen Mindich sowie einen weiteren Geschäftsmann, Oleksandr Zuckermann, wurden Sanktionen verhängt: Ihre Vermögen sollen eingefroren und ihre Reise- und Geschäftstätigkeiten eingeschränkt werden. Beide Männer, die auch die israelische Staatsbürgerschaft haben, haben die Ukraine verlassen. Energieministerin Switlana Grintschuk und Justizminister Herman Haluschtschenko nahmen den Hut. Dem Justizminister wirft die SAPO vor, "persönliche Vorteile" durch Geschäftsmann Mindich erlangt zu haben – im Gegenzug für die Kontrolle über Geldflüsse im Energiesektor. Haluschtschenko weist die Vorwürfe zurück. Energieministerin Grintschuk ist von den Korruptionsvorwürfen nicht direkt betroffen, als Vertraute Haluschtschenkos gilt sie jedoch auch als belastet. Das Parlament muss den Rücktritt der beiden Minister am Freitag bestätigen.
Für Selenskyj-Kritiker und Russland-Fans ist der Skandal ein gefundenes Fressen. Der ungarische Premier Viktor Orbán etwa schreibt auf X: Ein Mafia-Netzwerk mit unzähligen Verbindungen zu Präsident Selenskyj sei aufgedeckt worden – "das ist das Chaos, in das die Brüsseler Elite das Geld der europäischen Steuerzahler stecken will, wo alles, was nicht an der Front verschossen wird, in den Taschen der Kriegsmafia landet. Wahnsinn." Er werde das Geld des ungarischen Volkes nicht in die Ukraine schicken. Es sei höchste Zeit, "dass Brüssel endlich versteht, wohin sein Geld wirklich fließt".
Die Ukraine werde "alles Notwendige tun, um das Vertrauen der Partner zu stärken", erklärte Selenskyj auf X. Er hatte davor mit dem deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz telefoniert. Merz forderte, die Ukraine müsse die Korruptionsbekämpfung "energisch vorantreiben". Die nordischen und baltischen Staaten haben derweil angekündigt, umgerechnet über 540 Millionen Euro für den Kauf von US-Waffen für die Ukraine beizusteuern.
Korruption und die Zweckentfremdung von Geldern sind ein weitverbreitetes Problem in der Ukraine. Selenskyj war mit dem Ziel angetreten, dem ein Ende zu setzen. Seither hat das Land – gerade im Vergleich zu Russland – zwar Plätze im Korruptionsindex gut gemacht. Der jüngste Skandal zeigt aber, dass noch viel zu tun ist.