Über Ligurien, der Lombardei, dem Piemont, überall kein Weiterkommen – tausende Passagiere müssen am Boden bleiben. Ihre Flieger können plötzlich nicht mehr abheben. Was sich wie das Drehbuch zu einem Katastrophenfilm anhört, ist am Wochenende tatsächlich in Norditalien passiert. Am Samstagabend (28. Juni) sind über 300 Flüge ausgefallen, weil zuvor das Radar der Flugsicherung in Mailand ausgefallen war. Der komplette Luftraum im Norden von Italien war gesperrt.
Für die Gewerkschaft vida ist das ein unüberhörbares Warnsignal – nicht nur für Italien, sondern für ganz Europa, denn die Flugsicherung in Europa sei am Limit – und die Gewerkschaft warnt jetzt vor einem Kollaps im europäischen Luftraum:
"Der Ausfall in Norditalien ist ein weiteres Warnsignal für die mangelhafte Infrastrukturfinanzierung durch die Europäische Kommission und die gefährliche Privatisierung von Flugsicherungsdiensten", sagt Daniel Liebhart, Vorsitzender des Fachbereichs Luftfahrt in der Gewerkschaft vida.
Der Druck auf die Flugsicherungen sei enorm, das Sicherheitsnetz in Europa "mittlerweile sehr fragil". Die Politik müsse "die Sicherheit der Fluggäste endlich an die erste Stelle ihrer Prioritätenliste setzen", fordert Liebhart. Der Fall in Italien zeigt, wie heute Flugverkehr und Börsengewinne verwoben sind.
Bis 1979 unterlag die gesamte zivile und militärische Flugsicherung in Italien der italienischen Luftwaffe. Ab Anfang der 1980er-Jahre wurde der zivile Teil von einer Flugsicherungskommission verwaltet, die ab Mitte der 1990er-Jahre eine Körperschaft öffentlichen Rechts bildete und Ente Nazionale per l’Assistenza al Volo (ENAV) getauft wurde.
Die ENAV wurde mit 1. Jänner 2001 zunächst in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, blieb aber in staatlichem Eigentum. 2003 gab es erstmals Vorschläge zur Teilprivatisierung. Mitarbeiterproteste und rechtliche Hürden standen dem zunächst im Weg.
Es folgte die Übernahme des privaten technischen Flugsicherungsunternehmens Techno Sky und die Gründung mehrerer Tochterunternehmen, bis die italienische Regierung 2014 die Teilprivatisierung genehmigte. Die ENAV-Aktien werden seither an der Mailänder Börse gehandelt. Investoren konnten sich über Renditen von bis zu 8,47 Prozent pro Jahr freuen.
"Ausgerechnet die Privatisierung und der Gang an die Mailänder Börse haben zu Einsparungen bei sicherheitsrelevanten Systemen und zu einer fragilen Abhängigkeit von externen Telekommunikationssystemen geführt. Ein Teufelskreis, der auf den gesamten Kontinent übergreifen kann – auch Österreichs Flugsicherung steht massiv unter Kostendruck der Europäischen Kommission", kritisiert Daniel Liebhart.
Am Flughafen Wien in Schwechat werde für heuer ein erneuter Passagierrekord mit bis zu 32 Millionen Reisenden erwartet. Das bedeute bis zu 100.000 Passagierinnen und Passagiere an starken Reisetagen, doch die Flugsicherung stünde bereits mit dem Rücken zur Wand, argumentiert Liebhart.
"Die österreichischen Fluglotsinnen und -lotsen arbeiten seit Monaten am Limit, um ein Rekordwachstum nach dem anderen an Flügen sowie Passagierinnen und Passagieren im Land zu bewältigen", schildert der Vorsitzende des Fachbereichs Luftfahrt: "Auch bei uns ist der Spielraum nahezu ausgeschöpft – ein österreichischer Radarausfall zur Hauptreisezeit wäre katastrophal."
Um eine künftige Katastrophe zu vermeiden, fordert die Gewerkschaft vida jetzt dringend Maßnahmen: Es müsse rasch in Personal investiert werden. Dazu müssen auch die Kapazitäten in der Ausbildung auf- und ausgebaut werden – nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern.
Es müsse außerdem ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden, um die Finanzierung der Flugsicherung zu garantieren. Das betrifft nachhaltige Investitionen in Technologie, Personal und IT-Infrastruktur. Schließlich fordert die Gewerkschaft die Abkehr vom Shareholder-Druck durch Aktionäre, die ihre Gewinne durch Einsparungen bei der Sicherheit von Flugreisenden machen. "Die Flugsicherheit muss wieder unter öffentliche Kontrolle kommen", heißt es von der Gewerkschaft.
Und Daniel Liebhart setzt noch nach: "Der Radarausfall in Norditalien ist kein Einzelfall, sondern die direkte Folge einer fehlgeleiteten Finanzierungspolitik auf EU-Ebene. Wir brauchen jetzt einen Paradigmenwechsel weg von kurzfristiger Rendite hin zu langfristiger und nachhaltiger Sicherheit im europäischen Luftraum."
In Österreich "halten die Fluglotsinnen und Fluglotsen den Betrieb derzeit noch aufrecht", doch "arbeiten sie schon längst am Anschlag", warnt Liebhart: "Jetzt zählen Taten, und keine schönen Worte von Management und Politik."
Nach dem Radar-Ausfall im Kontrollzentrum in Mailand konnte der normale Flugverkehr, laut FlightRadar, erst wieder am Sonntagmorgen, gegen 7.00 Uhr hergestellt werden. Die Beeinträchtigungen hielten aber noch den ganzen Sonntag an.