"Neue Mitarbeiter, die bei Amazon aus purer Verzweiflung anheuern, bekommen zum Teil die stinkenden und schon gebrauchten Schuhe ihrer Vorgänger, die gekündigt wurden, oder freiwillig den Betrieb verlassen haben", sagt ein Mitarbeiter der Gewerkschaft vida, der als einer von wenigen Menschen in Österreich tiefen Einblick in die betrieblichen Vorgänge von Amazon Österreich hat.
Nachdem "Heute" im Frühjahr berichtete, wie sich Amazon per Klage gegen einen Betriebsrat seiner Arbeiter wehrte, erreichten uns jetzt neue brisante Vorwürfe gegen den Internet-Giganten. Immer wieder heißt es, dass in den Verteilerzentren des Konzerns extreme Arbeitsbedingungen herrschen würden, oft an der Grenze der Legalität.
"Es gibt eine fast unerfüllbare Quote bei uns", sagt ein Mitarbeiter, der aus Angst gekündigt zu werden, anonym bleiben möchte. "Mindestens 400 Pakete pro Stunde muss jeder von uns vom Förderband herunterholen und zu den entsprechenden Taschen bringen" Alle neun Sekunden muss ein Päckchen, egal wie groß oder schwer, in einer von vier weiterführenden Reihen, die vom zentralen Band abgehen, platziert werden.
"Das ist Laufen im Akkord", beschreibt das der Amazon-Insider der Gewerkschaft. "Es geht bis an die Grenze des Menschlichen", kommentiert es der betroffene Arbeiter. Er beschreibt das allnächtliche Sortieren als sehr schwere Aufgabe, denn "Quote bedeutet Laufen" – und gelaufen wird auch von 1.00 Uhr bis 9.00 Uhr morgens. Das sei die einzige Schicht, in der es Vollzeitkräfte gäbe, in allen anderen Schichten gäbe es ausgefeilte Teilzeit-Verträge.
Untertags, wie auch während der Nacht, stehen die sogenannten "Picker" stehen um ein zentrales Förderband. Eine Unzahl an Sendungen rollt an ihnen vorbei. Sprichwörtlich "am laufenden Band" müssen sie die richtigen heraussuchen, um sie in die ihnen zugeteilten Taschen zu legen, die schließlich zu den Lieferautos gebracht werden.
"Es bräuchte mehr Mitarbeiter, doch hier spart der Konzern auf unsere Kosten", kritisiert derselbe Amazon-Mitarbeiter. Er selbst sei schon länger im Betrieb – eine Ausnahme, denn: "Die Leute kommen und gehen, so wie Waren." Es seien hauptsächlich Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia oder Indien. An seinem Standort stünde derzeit kein einziger in Österreich geborener Mensch mit ihm zusammen am Förderband, sagt er.
"Es sind Menschen, die oft schon solche autoritären Verhältnisse aus ihren Ländern kennen, kaum Deutsch können und daher auch nicht wissen, welche Rechte sie eigentlich haben", erzählt er. Dabei nicht unwesentlich: Kameras. Der Konzern soll sie überall in seinen Gebäuden installiert haben.
"Man wird extrem unter Druck gesetzt, die Supervisoren, die selbst nicht einsortieren und auf Level 3 in der Hierarchie stehen, schreien die Arbeiter, die sich am untersten Platz der Hierarchie, auf Level 1 befinden, an. Wer da nicht mehr mitkommt, mitten in der Nacht langsamer wird, weil er müde ist, riskiert eine Rüge." Exakt 30 Minuten Pause gäbe es, überwacht von Kameras.
Das kritisiert auch die Gewerkschaft: "Im Verteilerzentrum Großebersdorf etwa gibt es Kameras mit Blickrichtung auf das Betriebsratsbüro und direkt über dem Zugang zum Pausenraum. Gegenüber ist das Klo. Es wird bis ins Intimste, bis zur Klo-Pause alles aufgezeichnet."
"Heute" hat Amazon mit diesen Vorwürfen konfrontiert und von Sprecherin Veronika Bredow folgende Antwort bekommen: "Die Videoaufzeichnung wird aus rein operativen und sicherheitsrelevanten Gründen genutzt, zum Beispiel für Notausgänge und Fördertechnik." Die entsprechenden Aufzeichnungen seien nur dem Sicherheits- und Technikpersonal zugänglich. Vorgesetzte hätten keinen Zugriff auf Kamerabilder.
Verblüffend: "Bei Amazon gibt es keine Quote" – Das sagt Sprecherin Bredow außerdem. Mithilfe von modernster Technologie werde der Fluss der Pakete durch das Verteilzentrum gesteuert. Details dazu nennt sie keine, sagt aber, dass damit "eine ausgeglichene Verteilung pro Reihe" gewährleistet sei und "einseitige Überlastung" vermieden werde. Die Mitarbeitenden könnten sich aussuchen, ob sie lieber "Reihen betreuen, in denen eine größere Anzahl an kleineren Paketen sortiert wird", oder ob sie "in der nächsten Reihe eher Pakete mittlerer Größe und dafür in kleinerer Anzahl" sortieren.
Es gäbe keine individuellen Leistungsziele. Der Schlüssel zum Erfolg liege vielmehr im optimalen Zusammenspiel aller Prozesse: "Die einzelnen Abteilungen - von Paketeingang bis Sortierung - müssen wie Zahnräder ineinandergreifen." Demgegenüber sagt der anonyme Mitarbeiter zu "Heute": "Jede Unregelmäßigkeit wird hart bestraft, wer einmal eine Gesprächsnotiz bekommt, kann sich im Unternehmen nicht mehr weiterentwickeln."
Seitens von Amazon heißt es weiter: "Unsere Führungskräfte arbeiten selbstverständlich eng mit ihren Mitarbeitern zusammen, um Prozesse zu verbessern und Arbeitsabläufe zu optimieren. Wie alle Unternehmen haben auch wir Erwartungen hinsichtlich der Leistung unserer Mitarbeitenden – dies allerdings ausschließlich mit Blick auf die operative Planbarkeit der Einhaltung des Kundenversprechens."
Wie eng diese Zusammenarbeit derzeit von Amazon ausgelegt wird, zeigt ein weiterer Vorwurf: Seitens der Gewerkschaft heißt es, dass Amazon einen Mitarbeiter gegen seinen ursprünglich Willen auf eine Wahlliste der Betriebsratswahl gesetzt hat. Das bestätigt auch der Betroffene: "Es war eine der obersten Führungsperson, die mich direkt am Arbeitsplatz darauf angesprochen hat."
"Es ist offensichtlich, was das Ziel ist", sagt jener Gewerkschaftsmitarbeiter, der den Amazon-Arbeitern zuletzt bei der Gründung ihres Arbeiter-Betriebsrates zur Seite stand. Jorge Plaut, der dieses Gremium anführte, hatte nur einen befristeten Vertrag, er ist mittlerweile nicht mehr bei Amazon. Ein anderer Betriebsrat wurde mit Verweis auf dienstliche Verfehlungen gekündigt. Vor dem Arbeitsgericht einigte man sich mit ihm auf eine satte Ausgleichszahlung.
Schließlich kam es, nach einer Klage von Amazon gegen den Betriebsrat rund um Plaut, im Juni erneut zu einer Betriebsratswahl. Das Ergebnis ist nun ein gemischtes Gremium, das, so der Vorwurf der Gewerkschaft, mit Amazon-treuen Mitarbeitern durchsetzt sei.
Horst Pammer, der Landesvorsitzende der Gewerkschaft vida in Niederösterreich und Vizepräsident niederösterreichischen Arbeiterkammer findet dazu deutliche Worte: "Der Dauerfall Amazon zeigt, dass der Wirtschaftsminister beim Thema Vollzeit komplett weg von der Realität ist: Denn, Amazon hat die allerwenigsten Arbeiter in Vollzeit. Unterschiedliche Teilzeitverträge, je nach Schichtlänge, sind die Realität."
"Zum Dank für schlimmste Arbeitsbedingungen, werden die Mitarbeiter auch noch komplett per Video überwacht – bis zur WC-Türe. Wie in einem utopischen Roman von George Orwell erfassen die Kameras jede kleinste Handlung, ob kurz niedersetzen, Blick aufs Handy, alles wird erfasst und abgestraft. Kein Wunder, dass Amazon jeden Arbeiter-Betriebsrat torpediert."