Wer regelmäßig am Bahnsteig steht, kennt die Geistermelodie: Ein Zug fährt los – und plötzlich klingt es, als würde der Railjet beim Losrollen eine Tonleiter spielen.
Die Kraft hinter dem Gesang? Der sogenannte Taurus – eine Hochleistungslok mit unglaublichen 10.000 PS. Wenn so ein Koloss etwa von Wien nach Salzburg rauscht, "entspricht das dem Energieverbrauch eines Einfamilienhauses eines ganzen Jahres", erzählt Harald Tisch, Fahrzeugmanager bei den ÖBB, dem "ORF NÖ".
Das "Musizieren" ist kein Zufall – sondern Physik mit Soundeffekt. Beim Startvorgang wandeln sogenannte Wechselrichter den Gleichstrom in dreiphasigen Wechselstrom um. Während die Frequenz steigt, entstehen "relativ leise Töne. Der gesamte Motorraum wirkt dabei als Resonanzkörper", erklärt Tisch. Am Bahnsteig klingt das wie eine Tonleiter – sanft, aber unüberhörbar.
Aber warum klingt das Singspiel so musikalisch? Die Antwort führt tief in die Programmiertechnik – und zu einem Mann, den niemand wirklich kennt. Nur so viel ist sicher: Die Idee mit der Tonleiter kam von einem Siemens-Techniker, der unter dem geheimnisvollen Pseudonym "Big M" arbeitete.
"Ein kleines Kind schlief wohl in ihm", spekuliert Tisch gegenüber "ORF NÖ". Der unbekannte Entwickler soll die Tonabfolge bewusst wie eine Skala programmiert haben – damit der Sound "für die Fahrgäste am angenehmsten" ist.
Nicht jeder Zug singt. Nur in den Taurus-Modellen 1016 und 1116, welche zwischen 2000 und 2004 gebaut wurden, spielt die Musik. Die neueren 1216er sind zwar moderner, aber dafür "unmusikalisch", wie Tisch sagt. Der Grund dafür sind andere Stromrichter – diese sind zwar energieeffizienter, aber unmusikalisch.
Wer unbedingt zwischen Sing-Bahn und Verstummtes Verkehrsmittel unterscheiden will: Die musikalischen Loks haben eine Tür pro Seite, die stillen Nachfolger zwei.