Im Durchschnitt habe jeder Mensch 13 Geheimnisse. Fünf davon erzähle er niemandem, die restlichen acht nur wenigen ausgewählten Personen. Das hat der US-Psychologe Michael Slepian herausgefunden. Er ist Associate Professor an der Columbia University in New York.
Im Interview mit dem "Süddeutsche Zeitung Magazin" erzählt er von seinen Studien und seiner Forschung. Seine Mutter habe seine erste veröffentlichte Studie zum Anlass genutzt, um ihm selbst ein lange gehütetes Geheimnis zu offenbaren: "Unser Vater ist nicht unser leiblicher Vater. Wir sind das Ergebnis von Samenspenden."
Slepian hat über 50.000 Menschen zu ihren Geheimnissen befragt. Um herauszufinden, welche Arten von Geheimnissen es gibt, entwickelte er eine Liste mit 38 Kategorien – darunter Diebstahl, Schwangerschaftsabbruch oder sexuelle Untreue. Auch positive Geheimnisse wie ein Heiratsantrag oder eine Überraschung zählen dazu. "Weil uns niemand danach fragt, müssen wir auch niemanden anlügen. Trotzdem ist es ein Geheimnis", erklärt er.
Besonders belastend seien Geheimnisse, die "unmoralisch" sind, niemandem anvertraut werden oder deren Grund man selbst nicht versteht. "Unmoralische Geheimnisse erzeugen Scham. Geheimnisse, die wir niemandem anvertrauen, führen zu Isolation", so Slepian weiter. In einer Studie zeigte er, dass Menschen, die an ihr größtes Geheimnis denken, physische Lasten stärker empfinden: "Sie schätzten Berge als steiler ein, so wie jemand mit schwerem Rucksack."
Die Forschung habe auch seine Familie beeinflusst, erzählt er. "Ich weiß nicht, ob meine Mutter uns das jemals gesagt hätte, wenn ich mich mit einem anderen psychologischen Feld beschäftigt hätte." Nach dem Geständnis habe er sofort das Bedürfnis gehabt, es anderen nahestehenden Personen zu erzählen. Sein Bruder hingegen schwieg. "Warum erzählst du das jedem?", fragte dieser.
Geheimnisse entstehen laut Slepian bereits im Alter von vier bis fünf Jahren. "Dann verstehen Kinder, dass ihre Gedanken getrennt sind von dem, was andere wissen."
Im Jugendalter könnten Geheimnisse wichtig sein, um sich von den Eltern abzugrenzen. Doch manche Geheimnisse seien schädlich, etwa bei Sucht, Missbrauch oder Selbstverletzung. Besonders belastend sei es, die eigene sexuelle Orientierung geheim zu halten. "Viel schlimmer als einzelne Lügen ist das permanente Gefühl, nicht man selbst sein zu können", sagte er.
Es könne entlasten, eine andere Person einzuweihen. "Wir neigen oft dazu, Dinge negativer zu sehen, als sie sind." Geeignete Vertrauenspersonen seien mitfühlend und besonnen. "Man sollte sich nicht Menschen anvertrauen, deren Moralvorstellungen sich stark von den eigenen unterscheiden", warnt er.
Bekannt wurde Slepian auch durch "Geheimnis-Telefone", die er mit einem Künstler in New York aufstellte. Menschen konnten dort anonym ihre Geheimnisse aufnehmen oder anhören. "Die Leute standen Schlange", berichtet er. Dennoch: "Ein Anrufbeantworter kann keine Reaktion geben. Der größte Nutzen liegt darin, zu hören, dass man nicht allein ist."