In der Nacht auf Mittwoch ist eine große Anzahl an russischen Kamikaze-Drohnen offenbar gezielt in den polnischen Luftraum eingedrungen.
Der polnische Regierungschef Donald Tusk sprach am Mittwoch im Parlament von einer "Provokation großen Ausmaßes", die Polen "näher denn je an einen offenen Konflikt" bringe. Auch der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz verurteilte das "rücksichtslose Vorgehen" Russlands "auf das Schärfste".
"Letzte Nacht wurde der polnische Luftraum 19 Mal von in Russland hergestellten Drohnen verletzt. Wir gehen davon aus, dass sie nicht vom Kurs abgekommen sind, sondern gezielt eingesetzt wurden. Es kam zu Sachschäden, aber glücklicherweise wurde niemand verletzt", hielt der polnische Vizepremier und Außenminister Radosław Sikorski in einer Videoansprache noch am Abend nach dem Vorfall fest.
Seine Regierung zieht brisante Konsequenzen: "Auch wenn die NATO nicht im Krieg steht, reicht die russische Aggression über die Ukraine hinaus. Wir ergreifen geeignete Maßnahmen. Polen hat Artikel 4 der NATO-Vertragsbestimmungen aktiviert, der gemeinsame Konsultationen zwischen den NATO-Verbündeten vorsieht, 'wann immer nach Ansicht eines von ihnen die territoriale Unversehrtheit, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist'. Wir sind der Ansicht, dass die russischen Provokationen eine weitere Stärkung der Ostflanke der NATO erfordern", so Sikorski weiter.
Der polnische Außenminister rechnet auch knallhart mit der russischen Reaktion auf diesen Vorfall ab: "Ich bin mir bewusst, dass Russland behauptet, es gebe keine Beweise dafür, dass es sich um russische Drohnen handelte, und sogar eine ukrainische Provokation andeutet. Das war zu erwarten. Lügen und Leugnen sind die üblichen Reaktionen der Sowjetunion. Der Kreml verspottet erneut die Friedensbemühungen von Präsident Trump."
"Polen, die EU und die NATO lassen sich nicht einschüchtern, und wir werden weiterhin an der Seite des mutigen Volkes der Ukraine stehen", lautet die Ansage des Ministers: "Es ist an der Zeit, dass die Führung Russlands begreift, dass der Versuch, das letzte Imperium Europas wiederaufzubauen, zum Scheitern verurteilt ist."
Davor war es bereits online zu einer Auseinandersetzung Sikorskis mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán gekommen. Der Putin nahestehende Regierungschef hatte sich auf X zu dem Drohnen-Zwischenfall geäußert. Ungarn stehe voll und ganz an der Seite Polens und die Verletzung der territorialen Integrität sei inakzeptabel, schrieb Orbán. Kritik am Kreml? Wie üblich, Fehlanzeige.
Stattdessen zündete Orbán die nächste Nebelgranate: "Der Vorfall beweist, dass unsere Politik, die auf Frieden im Krieg zwischen Russland und der Ukraine abzielt, vernünftig und rational ist. Das Leben im Schatten eines Krieges ist mit Risiken und Gefahren verbunden. Es ist Zeit, dem ein Ende zu setzen! Zu diesem Zweck unterstützen wir die Bemühungen von Präsident Donald Trump, Frieden zu erreichen."
Eigentlich ein hehres Ziel, doch (derzeit) ein sinnloses Unterfangen. Wladimir Putin hat, solange seine Schergen militärische Fortschritte machen, überhaupt kein Interesse an Verhandlungen. Das hat er immer und immer wieder bewiesen.
Bei den Polen kam diese Aussage überhaupt nicht gut an. Vizepremier Sikorski schoss via X zurück: "Nein, Viktor. Der Vorfall beweist, dass Du Deine Position klarstellen und die russische Aggression verurteilen solltest. Wir fordern Dich auf, die Auszahlung von EU-Verteidigungsgeldern freizugeben, schärfere Sanktionen gegen den Aggressor zu beschließen und Dein Veto gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zurückzuziehen."
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 melden Polen und die baltischen NATO-Staaten immer wieder russische Drohnen im eigenen Luftraum. Doch so viele wie diesmal waren es noch nie – und erstmals wurden jetzt auch welche abgeschossen. Dabei waren auch NATO-Flugzeuge im Einsatz, darunter niederländische F-35-Kampfjets. Ein NATO-Sprecher bestätigte, dass auch deutsche Patriot-Luftabwehrsysteme in Polen in Alarmbereitschaft versetzt wurden und ein italienisches Frühwarnflugzeug zum Einsatz kam.
Die ohnehin geplante Sitzung des Nordatlantikrats wurde auf Wunsch Polens nach Artikel 4 abgehalten. NATO-Generalsekretär Mark Rutte verurteilte das "absolut rücksichtslose" und "absolut gefährliche" Verhalten Russlands und lobte den NATO-Einsatz als "sehr erfolgreich". Die NATO sei bereit, "jeden Zentimeter" ihres Gebiets zu verteidigen.
Auch US-Präsident Donald Trump stellte klar, dass Russland "den polnischen Luftraum mit Drohnen verletzt" habe. Online schrieb er: "Here we go!" ("Los geht's"). Trump wollte noch am selben Tag mit dem polnischen Präsidenten Karol Nawrocki telefonieren.
Erst vor einer Woche hatte er Nawrocki im Weißen Haus empfangen und Polen Unterstützung zugesichert. Er zeigte sich offen, mehr US-Soldaten nach Polen zu schicken. Zuletzt waren dort laut Medien rund 8.000 US-Kräfte stationiert.
Der deutsche Bundeskanzler Merz meinte: "Russland hat Menschenleben in einem Staat gefährdet, der der NATO und der EU angehört." Und weiter: "Dieses rücksichtslose Vorgehen reiht sich ein in eine lange Kette von Provokationen".
SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius sprach von einer gezielten "Provokation" Moskaus gegen die gesamte NATO. Die Drohnen seien offenbar von Belarus aus gesteuert worden. Russland und Belarus starten ab Freitag ihr gemeinsames Großmanöver "Sapad 2025" (Westen 2025).