Ameisen brauchen keine medizinischen Geräte, um ihre Artgenossen zu behandeln. Ihre Kiefer sind wahre Alleskönner: Sie dienen als Schere, Waffe und sogar als Skalpell. Der deutsche Biologe Erik Frank hat das in einer Studie genau untersucht. Er konnte bei afrikanischen Campanotus-Ameisen beobachten, dass sie mit ihren kräftigen Kieferscheren sogar Operationen durchführen – sie amputieren verletzte Beine, indem sie diese "an der Schulter praktisch abbeißen."
Schon im Vorjahr hat das Team der Uni Würzburg ähnliche Beobachtungen gemacht. Die Forscher haben nun auch herausgefunden, warum die Ameisen das machen. Durch die Amputation verhindern sie, dass sich Infektionen im Körper ausbreiten. Frank erklärt gegenüber dem ORF: "Es wird immer sofort das Bein amputiert. Prophylaktisch. Um auf Nummer Sicher zu gehen, falls die Wunde infiziert war. Damit die Ameise nicht stirbt."
Im Ameisenstaat gilt: Safety first. Nach ein paar Minuten ist das verletzte Bein ab. Hinter dieser schnellen Entscheidung steckt auch eine klare Kosten-Nutzen-Rechnung. Ameisen leben oft in riesigen Kolonien mit tausenden, manchmal sogar Millionen Tieren. Gerade bei der untersuchten Art "Camponotus maculatus" sind aber zehn bis zwanzig Prozent der Arbeiterinnen verletzt. Für das Überleben des ganzen Staates macht es also einen großen Unterschied, ob die verletzten Tiere gerettet werden oder nicht.
Du fragst dich vielleicht: Wie kommt eine Ameise mit nur fünf Beinen überhaupt noch voran? Laut Frank schaffen sie das erstaunlich gut. In den ersten 24 Stunden nach der Amputation sind sie zwar "ungefähr 30, 40 Prozent langsamer, weil sie noch lernt, wie sie mit fünf Beinen laufen kann. Aber nach einem Tag läuft die verletzte Ameise praktisch schon genauso schnell wie eine gesunde."
„Ameisen überraschen uns mit ihrem Verhalten immer wieder“Erik FrankBiologe
Obwohl Ameisen ihr Verhalten wahrscheinlich nicht bewusst reflektieren, wirken ihre medizinischen Eingriffe ziemlich durchdacht. Offenbar braucht es kein großes Gehirn, um klug zu handeln. "Ameisen überraschen uns mit ihrem Verhalten immer wieder", sagt Frank, der die Notfallversorgung im Ameisenstaat schon lange erforscht. Ähnliches Verhalten gibt es auch bei uns Menschen – trotz der Unterschiede im Gehirn.
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Frank bringt ein Beispiel aus dem Alltag: "Ich nehme immer gerne dieses Beispiel: Wenn ich mich am Finger schneide, werde ich automatisch den Finger in den Mund nehmen und meinen Speichel auftragen. Da denke ich nicht daran, dass sich im Speichel antimikrobielle Proteine befinden, die Krankheitserreger bekämpfen und gegen Infektionen wirken. Ich tue es einfach." Dieses instinktive Verhalten hat sich im Lauf der Evolution entwickelt – bei uns genauso wie bei den Ameisen.