Ein Jahr, das anders gelaufen ist als geplant. ÖVP-Chef und Bundeskanzler Christian Stocker blickt auf turbulente Monate zurück. "Vor einem Jahr um diese Zeit hatte ich mein Kapitel in den Regierungsverhandlungen fix und fertig und bin davon ausgegangen, dass zu Heiligen Drei König die Dreierkoalition steht", sagt Stocker im KURIER. "Wie wir wissen, ist es anders gekommen."
Seit Jänner führt er die ÖVP, seit 3. März steht er an der Spitze der ersten Dreierkoalition Österreichs. Noch vor einem Jahr verhandelte er gemeinsam mit Karl Nehammer und Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer, die beide inzwischen nicht mehr im Amt sind. Für Stocker ist das kein Zeichen innerparteilicher Probleme: "Das sagt mehr über die Zeit aus als über die ÖVP aus. Wir leben in einer Zeit, die von Unvorhersehbarkeiten geprägt ist", erklärt der Kanzler in der Tageszeitung. Die Welt verändere sich rasant, Europa müsse darin erst seine Rolle finden.
Der Jurist und frühere Vizebürgermeister von Wiener Neustadt betont, er habe den rasanten Aufstieg an die Spitze nie bereut. "Ich mache es freiwillig und ich mache es gerne", betont Christian Stocker im KURIER. Er gebe sein "Herzblut für dieses Land", weil er an einen Aufschwung glaube, den diese Regierung schaffen könne.
Die türkis-rot-pinke Koalition könne womöglich für lange Zeit die letzte sein, die Reformen aus der politischen Mitte heraus umsetzen könne. Der Handlungsbedarf ist groß: Österreich steckt im dritten Rezessionsjahr, die Inflation liegt über vier Prozent, fast 400.000 Menschen sind arbeitslos, das Wirtschaftswachstum stagniert. Dazu kommt ein deutlich höheres Budgetdefizit als ursprünglich erwartet. Die Maastricht-Kriterien sind damit klar verfehlt.
Wie es aus der wirtschaftlichen Talsohle gehen soll, fasst Stocker in einer einfachen Formel zusammen. Mit der "Formel 2-1-0, die ja kein Marketing-Gag ist, sondern abbildet, welchen Weg wir 2026 gehen wollen", sagt Stocker im KURIER. Gemeint sind zwei Prozent Inflation, ein Prozent Wirtschaftswachstum und null Toleranz gegenüber Intoleranz. Hoffnung macht ihm, dass Lebensmittelpreise sinken könnten. "Gleichzeitig werden wir den 'Österreich-Aufschlag’ auf EU-Ebene weiter bekämpfen und die Wirtschaft mit den Maßnahmen aus der Industriestrategie ankurbeln." Diese soll im Jänner präsentiert werden.
Trotz schlechter Umfragewerte sieht Stocker die Arbeit der Regierung positiv. Sie sei "mehr als herzeigbar, auch wenn diese Leistung bei den Menschen noch nicht zur Gänze angekommen ist". Als wichtigen Schritt nennt er das gemeinsam mit den Grünen beschlossene "Billig Strom"-Gesetz. Dass die FPÖ nicht mitstimmte, kritisiert er im KURIER scharf: "Ich habe von der FPÖ nie ein Argument gehört, warum sie nicht mitstimmt. Aber Hauptsache, sie ist dagegen. Das Wesen der FPÖ ist ein Geist, der verneint", stellt der Kanzler in der Tageszeitung klar.
In der aktuellen Koalition werde hingegen ein anderer Stil gelebt. "Wir verstehen uns besser als es in der Öffentlichkeit empfunden und auch von dem ein oder anderen gewünscht wird", so Stocker im KURIER. Zur Kritik aus den eigenen Reihen an einem ÖVP-Instagram-Posting mit Ergebnissen des Integrationsbarometers sagt Stocker: "Beim Inhalt des Postings handelt es sich nicht um eine Meinung, sondern um eine Studie darüber, was die Menschen empfinden."
Auch an seiner Aussage zur Diversion von ÖVP-Klubchef August Wöginger hält der Kanzler fest. Entscheidungen der Justiz müsse man respektieren, selbst wenn man sie nicht teile. Zudem betont er seine langjährige Erfahrung als Anwalt.
Gerüchte über ein mögliches Comeback von Sebastian Kurz weist Stocker zurück. Das sei zwischen ihnen "kein Gesprächsthema". Kurz habe klar gesagt, dass seine Zukunft in der Wirtschaft liege. "Das, was in der Öffentlichkeit thematisiert wird, entspricht oft nicht der Realität", erklärt Österreichs Regierungschef gegenüber der Tageszeitung.
Für die Zukunft wünscht sich der Kanzler vor allem eines: Zuversicht. Und privat, sagt Stocker, hoffe er "neben Gesundheit, dass ich das Gewicht, das ich seit der Operation verloren habe, halten kann".