Das Schweizer Bergdorf Blatten im Lötschental wurde am Mittwoch durch den Abbruch des Kleinen Nesthorn-Gipfels und folgenden Kollaps des darunterliegenden Birchgletschers beinahe vollständig ausgelöscht. Was nicht vom Geröll geplättet wurde, ist danach im sich aufstauenden Fluss Lonza versunken.
Welche Faktoren genau zu dieser Naturkatastrophe geführt haben, dafür brauchte es erst eine Attributionsstudie samt Auswertung von Jahrzehnten an Messdaten. Was aber klar ist: Der Klimawandel ist die Rahmenbedingung für solche Ereignisse.
Der Temperaturanstieg der letzten Jahrzehnte lässt Gletscher und auch den Permafrost auftauen, was zu mehr Abbrüchen führt, erklärt Hochgebirgsforscher Jan Beutel am Freitag im Ö1-Mittagsjournal: "Berge werden instabil und stürzen letztendlich ab, weil sich die Materialkonfiguration und die Geometrie ändern." Die Schwerkraft tut dann ihr übriges.
Die Folgen werden wir künftig noch häufiger erleben: "Zu einem gewissen Teil ist die Reise für die nächsten Jahre gebucht – eingeheizt ist schon, und das Tauen und Schmelzen wird unweigerlich weitergehen", so der Professor für Technische Informatik der Universität Innsbruck.
Obwohl die Gefahr in Österreich geringer als in der Schweiz ist, schärft Beutel nach: "Immun sind wir nicht". Auch ist das heimische Messnetz für Permafrost und Massenbewegungen deutlich lückenhafter als jenes der benachbarten Eidgenossen. Österreich stehe dabei "eindeutig hinten an".
Permafrostexperte Christophe Lambiel von der Universität Lausanne ist überzeugt, dass der Klimawandel schon jetzt bei der Katastrophe im Lötschental mitgewirkt hat. Die rund 500 Meter hohe Felswand über dem Birchgletscher liegt im ehemaligen Permafrostbereich.
Das instabile gewordene Gestein stürzte auf die ohnehin schon sich bewegenden Eismassen und beschleunigte diese noch weiter bis zum Zusammenbruch. Das sei eine noch nie da gewesene Abfolge, so der Professor. Ihm ist in den Alpen kein vergleichbares Ereignis bekannt.
Auch Geophysikerin und Gletscherforscherin Andrea Fischer von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften legt in der ZIB2 nach: Der Nachweis, dass der Klimawandel eine maßgebliche Rolle in Blatten hatte, sei zwar aufgrund der Vielzahl möglicher Faktoren nicht an einem solchen Einzelereignis festzumachen.
Die "deutliche Häufung" solcher Bergstürze – beispielsweise jener am Fluchthorn 2023 – in den letzten Jahren weise aber daraufhin, "dass schon eine Veränderung im naturräumlichen System eingetreten ist." Wenn diese warmen Temperaturen bestehen bleiben, wird es voraussichtlich zu einer weiteren Zunahme solcher Ereignisse kommen. "Insofern kann man schon davon ausgehen, dass der Klimawandel eine Rolle spielt."
Wie groß ist die Gefahr in Österreich? "Wir haben auch Infrastruktur im Hochgebirge, wo unter Umständen viele Menschen unterwegs sind. Ich würde es nicht ausschließen, dass auch in Österreich eine gewisse Gefährdungssituation besteht." Behörden und Wissenschaft würden diesbezüglich bereits zusammenarbeiten, das System sei jedoch ausbaufähig.
Prinzipiell seien die Verhältnisse hierzulande günstiger als in der Schweiz, auch historisch habe es weniger Schadensereignisse gegeben. "Allerdings gibt es auch hier die Gefahr, dass die Flutwellen, die bei solchen Ereignissen entstehen, auch den Siedlungsraum betreffen."
Welche Regionen sind am stärksten betroffen? Die niedrigsten Permafrostvorkommen liegen in Österreich auf 1200 Metern Seehöhe, allgemein werde davon ausgegangen, dass über 2.000 oder 2.500 Meter Permafrostvorkommen sehr häufig seien.
"Allerdings wissen wir sehr wenig über diese Verteilung des gefroren Untergrunds. Das macht es so schwierig, hier eine gute Prognose zu liefern. Auch weil diese Prozesse – und das ist das Heimtückische daran – zur Zeit nicht vorhersagbar sind und auch zum Teil keine Vorwarnzeichen haben." Deswegen sei es so wichtig, das Grundlagenwissen zu verbessern.
Die Forscherin plädiert auf einen Ausbau des Messnetzes, das mit Bohrlöchern das Eindringen der Erwärmung in den Untergrund aufzeichnet. In weiterer Folge sei auch die Politik gefragt, zusammen mit der Wissenschaft ein Warnsystem analog zu jenem für Lawinen zu entwickeln.
"Und dann wäre wirklich dringlich angeraten, nicht so sehr den Gletschermessdiensten neu aufzusetzen, sondern vor allem in die Permafrostforschung zu investieren und dort Messstellen und Messnetze zu installieren. Da gibt es tatsächlich einen dunklen Fleck auf unserer Wissenslandkarte."
Klimatologen und Alpinisten warnen schon lange, dass die Zahl von Extremwetter-Ereignissen und Felsstürzen im Alpenraum weiter zunehmen wird.
Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der BOKU Wien, ist überzeugt, dass exponierte Regionen wohl angesichts immer häufigerer Katastrophen aufgegeben werden müssen – und das alleine schon aus dem Blickwinkel der Wirtschaftlichkeit: "Die Infrastruktur wird dort öfter zerstört werden, als man sie wieder aufbauen kann."
„Wir werden in den Alpen Lebensraum verlieren“Reinhard SteurerProfessor für Klimapolitik, BOKU Wien
Steurers erschütternde Prognose: "Wir werden in den Alpen Lebensraum verlieren. Wir reden einfach noch nicht darüber, weil es so nah und deshalb so unangenehm ist." Mehr dazu hier: