Die Ärztekammer (ÖÄK) schlägt Alarm. Was früher als Ausnahme galt, ist heute Normalität: In Österreich sind regelmäßig hunderte Medikamente nicht lieferbar – darunter essenzielle Mittel wie Antibiotika, Schmerzmittel oder Hustensäfte für Kinder.
„Dass kranke Menschen dringend benötigte Medikamente nicht bekommen, ist aus medizinischer Sicht inakzeptabel“Johannes SteinhartPräsident der Ärztekammer
Ein Ende dieser Versorgungslücken ist laut ÖÄK nicht in Sicht – im Gegenteil. Neue Regelungen könnten die Lage sogar weiter verschlechtern.
"Dass kranke Menschen dringend benötigte Medikamente nicht bekommen, ist aus medizinischer Sicht inakzeptabel und für ein wohlhabendes Land wie Österreich beschämend", betonte Ärztekammerpräsident Johannes Steinhart am Montag bei einer Pressekonferenz in Wien.
Besonders kritisch sieht Steinhart das sogenannte Preisband: Es verpflichte Medikamentenhersteller zu Preissenkungen. Dadurch habe sich Österreich den Ruf als "Billigland" eingehandelt: "Österreich ist für Hersteller von Arzneimittelspezialitäten kein attraktiver Markt mehr." Wenn die Kostenschraube weiter angezogen werde, würden noch mehr Medikamente vom Markt verschwinden, warnt der ÖÄK-Präsident.
Auch von Pharmakologe Ernst Agneter kommt Kritik am Preisband: Die Regelung, die seit 2017 gilt, zwinge Hersteller zu Preissenkungen – mit paradoxen Effekten: "Das Preisband wurde eingeführt, um zusätzlich zu den Preissenkungen bei der Einführung von Generika eines bestimmten Wirkstoffs, die Preise mit Referenz auf den günstigsten Preis nochmals zu senken", erklärt der Pharmakologe.
So musste etwa eine im Jahr 2024 zugelassene Preiserhöhung zur Sicherung der Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel 2025 aufgrund des Preisbands wieder rückgängig gemacht werden. Das mache eine verlässliche Produktionsplanung für Unternehmen unmöglich, so Agneter.
Besonders deutlich lehnt die ÖÄK die von Teilen der Politik und Apothekerkammer geforderte Wirkstoffverschreibung ab. Dabei würden Ärzte künftig nicht mehr ein konkretes Präparat, sondern nur noch den enthaltenen Wirkstoff verschreiben. Eigentlich hört sich das wie ein sinnvoller Schritt an, wenn Ärzte statt Markennamen präzise Wirkstoffe aufschreiben. Doch die ÖÄK warnt: Die Entscheidung, welches Präparat, von welchem Hersteller, ausgehändigt wird, läge dann nur noch bei der Apotheke.
"Die Auswahl orientiert sich dann nicht am Bedarf des Patienten, sondern an Lagerkosten oder Gewinnspannen", so Präsident Steinhart. Für chronisch Kranke oder ältere Menschen sei das gefährlich, denn: "Wenn ein Patient ständig neue Präparate bekommt, leidet die Therapietreue. Es besteht die Gefahr von Verwechslungen – insbesondere wenn sich die Farbe oder die Form der Verpackung ständig ändern", erklärt er.
"Hier werden wir im Sinne der Sicherheit unserer Patientinnen und Patienten nicht mitspielen", sagt Steinhart. Ärztinnen und Ärzte seien die Letztverantwortlichen. Die Entscheidung über eine Therapie müsse auch weiterhin in der ärztlichen Hand bleiben.
Besonders brisant: Gegenwärtig werden unzählige Generika vom Markt genommen. Das sind wirkstoffgleiche Präparate, Kopien bereits zugelassener Medikamente, die ihren Patentschutz verloren haben. Ein typisches Generikum ist das Schmerzmittel Ibuprofen, das Ende der 1960er-Jahre erstmals in Großbritannien unter dem Markennamen Brufen eingeführt worden ist. Mitte der 1980er-Jahre, endete der Markenschutz.
Mittlerweile gibt es unzählige Generika mit diesem und anderen Wirkstoffen – neben teuren auch sehr günstige. Eine schnelle Google-Suche zeigt: Die Preise von Ibuprofen-Generika schwanken massiv. Die teuersten Präparate am Markt kosten das Zehnfache der günstigsten. Das ist freie Marktwirtschaft.
Gleichzeitig verschwinden jeden Monat etwa 20 unterschiedliche Generika aus dem Erstattungskodex, sagt Pharmakologe Agneter. Der Grund: Ihre Produktion sei nicht mehr rentabel. Verantwortlich dafür seien Preisvorgaben und gesetzliche Auflagen – künftig möglicherweise auch die geplante EU-Abwasserrichtlinie.
Das bedroht jetzt auch die Versorgung mit dem Diabetes-Wirkstoff Metformin – einem günstigen Arzneistoff gegen Typ-2-Diabetes, den weltweit über 130 Millionen Patienten benötigen würden, warnt Agneter: "Wenn diese Richtlinie wie geplant umgesetzt wird, ist damit zu rechnen, dass Metformin vom Markt verschwindet."
Eine Brancheninsiderin aus Niederösterreich (Name der Redaktion bekannt) erklärt das Dilemma: "Bei Metformin beträgt der Fabriksabgabepreis in Österreich 1,88 Euro. Die Gesundheitskasse (ÖGK) kauf die Packung um 2,95 Euro von der Apotheke, die Differenz geht an den Pharma-Großhandel und die Apotheke."
"Das ist gesetzlich geregelt, damit die Patienten einen günstigen Preis zahlen. Das Pharmaunternehmen muss mit 1,88 alle seine Kosten decken. Die Marge liegt im einstelligen Cent-Bereich." Jetzt kommt aber die von der europäischen Landwirtschaft befürwortete Abwasserrichtlinie ins Spiel: "Sie besagt, dass Pharmafirmen große Teile der vierten Klärstufe mitfinanzieren sollen, um gefährliche Spurenstoffe zu entfernen. Was dadurch anfällt, kann bis zu 500 Prozent vom Herstellerpreis betragen."
"Heute" hat beim Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs (PHARMIG) nachgefragt. "Die ÖÄK weist auf den Umstand hin, dass niedrige Preise Engpässe begünstigen, was auch unsere Position ist", sagt Sprecher Peter Richter. Zwar gäbe es im Moment keine weitere Steigerung bei bestehenden Lieferschwierigkeiten, aber: "Wie das im Herbst oder Winter aussehen wird, lässt sich nicht vorhersehen."
Engpässe, das sagt auch Richter, gäbe es hauptsächlich bei Medikamenten, die keinen Patentschutz mehr haben, also bei Generika. "Da sprechen wir nicht von den teuren Medikamenten, sondern vor allem von jenen, deren Preise sich unter der Rezeptgebühr von 7,55 Euro befinden." Hier könnten Pharmaunternehmen die Kosten nicht einfach weitergeben, etwa durch höhere Preise.
Die Ärztekammer fordert einen politischen Kurswechsel: "Wir müssen die Medikamentenproduktion zurück nach Österreich oder zumindest Europa holen", sagt ÖÄK-Präsident Steinhart. Die globalen Lieferketten seien zu instabil für einen derart sensiblen Bereich wie die Arzneimittelversorgung.
Dem kann auch die anonyme Brancheninsiderin beipflichten: "Schon aus strategischen Überlegungen brauchen wir eine europäische Produktion." Dann weist sie aber auch noch auf ein Dilemma hin: "Wie lösen wir als Gesellschaft das Problem der Abwasserverseuchung durch Medikamente?"
Die geplante Abwasserrichtlinie, die seitens der europäischen Landwirtschaft begrüßt werde, könnte dazu führen, dass weitere etablierte und günstigste Generika verschwinden: "Aber sauberes Wasser ist lebenswichtig. Irgendjemand wird dafür zahlen müssen."