Kennst du das? Du sprintest zum Bus, dein Herz klopft wie wild und du tippst noch schnell eine Nachricht: "Sorry, verspäte mich leicht." Wenn das öfter passiert, denken andere vielleicht, du seist unorganisiert oder gar respektlos. Aber laut Wissenschaftlern hat dieses Verhalten nicht unbedingt mit Absicht zu tun – sondern mit deiner Zeit-Persönlichkeit. Denn bei Streitereien um Pünktlichkeit geht es oft gar nicht um die Uhrzeit, sondern darum, wie wir überhaupt mit Zeit umgehen.
Diese Unterschiede beschäftigen Forschende seit Jahrzehnten. Bereits in den 1950ern prägte der Anthropologe Edward T. Hall die Begriffe "monochron" und "polychron", um zu beschreiben, wie unterschiedlich wir Zeit wahrnehmen und nutzen. Seiner Annahme nach ist Zeit in Nordeuropa und den USA strikt getaktet: Aufgaben werden nacheinander erledigt und Deadlines sind heilig. In Lateinamerika, Afrika oder dem Nahen Osten hingegen geht man laut Hall lockerer mit Zeit um und wechselt auch mal mitten in einer Aufgabe den Fokus.
Monochrone Menschen ticken nach dem Prinzip "eins nach dem anderen". Sie lieben Listen, feste Zeiten und planen gerne. Polychronen Menschen hingegen geht es mehr um Erlebnisse und Beziehungen, Termine sehen sie eher als grobe Orientierung. Ein Beispiel aus dem Alltag: Deine Kollegin ruft an, während du an einer Präsentation arbeitest. Monochrone Menschen gehen nicht ran, weil sie "im Flow" sind, und melden sich später. Polychron-Typen nehmen ab, plaudern drauflos und lassen sich auch mal ablenken.
Eher monochron:
- Du hasst es, wenn Leute zu spät kommen.
- Du planst Ferien ganz genau und nach Zeitplan.
- Du hast deine Termine immer voll im Griff.
- Wenn jemand dich unterbricht, bringt dich das schnell aus dem Konzept.
- In Beziehungen bist du zuverlässig, spontane Planänderungen nerven dich.
Eher polychron:
- Du vergisst beim Kaffeetrinken gerne die Zeit.
- Du jonglierst locker mehrere Dinge gleichzeitig.
- Pläne sind für dich flexibel – es zählt, was sich richtig anfühlt.
- Wenn ein Freund oder eine Freundin plötzlich vorbeischaut, wirfst du deinen Tagesplan über den Haufen.
- Du findest es wichtiger, für andere da zu sein, als pünktlich zu sein.
"Für monochrone Menschen ist eine Unterbrechung automatisch nervig", erklärt der Zeitforscher Allen C. Bluedorn von der University of Missouri gegenüber der "New York Times". Für polychrone Menschen hingegen ist eine plötzliche Planänderung oft kein Problem. Sie entscheiden spontan, was ihnen dann wichtiger ist.
„Für monochrone Menschen ist eine Unterbrechung automatisch nervig.“
Wenn jemand sagt, "Abendessen gibt's heute um sechs", bedeutet das für monochrone Menschen Punkt sechs. Für polychrone Typen ist das eher eine ungefähre Angabe: Man isst halt, wenn es passt – vielleicht kurz nach sechs, vielleicht auch erst halb sieben. In Beziehungen und Freundschaften kann das für Missverständnisse oder Konflikte sorgen, weil manchen Leuten Struktur wichtig ist, anderen dafür Flexibilität.
Monochrone Menschen sind oft effizienter: Sie arbeiten konzentriert und bringen Projekte zu Ende. Doch sie können sich auch so sehr an Pläne klammern, dass sie Chancen verpassen. Polychrone Menschen sind flexibler, kreativer und lassen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Aber sie neigen dazu, Dinge nicht abzuschließen. "Menschen mit polychronem Zeitgefühl haben oft eine realistische Sicht aufs Leben. Sie wissen, dass nicht alles nach Plan läuft", sagt Dr. Dawna Ballard von der University of Texas in Austin gegenüber der "New York Times".
Studien zeigen: Am produktivsten bist du, wenn du im eigenen Rhythmus arbeitest, ob du nun lieber nur kurz in Aufgaben eintauchst oder dich voll auf eine Sache konzentrierst. Wer die eigene Zeit-Persönlichkeit kennt, kommt entspannter durchs Leben und besser mit anderen klar.
Die gute Nachricht: Laut Fachpersonen kannst du dein Zeitverhalten je nach Situation anpassen. Dr. Ballard empfiehlt: "Wenn dein Ziel ist, Beziehungen zu pflegen, dann sei polychron. Wenn du etwas erledigen willst, dann werde für eine gewisse Zeit monochron und blende Ablenkungen aus."
Bist du oft gestresst, weil Dinge länger dauern als geplant? Dann bau Pufferzeiten ein. Kommst du oft zu spät? Trickse dich aus und notiere Termine 30 Minuten früher. Und wenn du dich über andere ärgerst, weil sie unpünktlich sind, könntest du ein Buch mitnehmen oder die Zeit sonst wie sinnvoll nutzen. Denn wenn du nicht das Gefühl hast, deine Zeit sei vergeudet worden, ärgerst du dich weniger. Wichtig ist laut Dr. Ballard primär eines: "Hör auf, andere zu verurteilen, nur weil sie Zeit anders wahrnehmen als du."