Gewalt an Frauen ist in Österreich kein Randphänomen. Sie passiert in allen sozialen Schichten – sogar dann, wenn nach außen hin die perfekte heile Welt präsentiert wird. Doch gerade dieses makellose Bild kann gewaltvolles Verhalten mit seinen vielen Gesichtern lange unsichtbar machen.
Bettina Zehetner, psychosoziale Beraterin und Vorständin im Wiener Verein "Frauen* beraten Frauen*", warnt im "Heute"-Gespräch: "Gewalt an Frauen ist nach wie vor ein alltägliches Problem. Ein Femizid ist hier 'nur' die Spitze des Eisbergs. Bereits vorher passiert wahnsinnig viel."
„Gewalt an Frauen ist nach wie vor ein alltägliches Problem. Ein Femizid ist hier 'nur' die Spitze des Eisbergs.“
"Wenn ich mich kontrolliert fühle, ist es das erste Alarmzeichen", so Zehetner. Es beginne bereits in der sogenannten "Couple Bubble" erklärt die Expertin: "Wir zwei gegen den Rest der Welt, mag vielleicht romantisch klingen, doch daraus kann schnell Gewalt werden. Meist wird den Frauen auch suggeriert, nicht mit der Außenwelt über die Beziehung zu sprechen. Es folgen Eifersucht, Kontrolle und Besitzdenken. Der Mann will alle Passwörter haben, kontrolliert Nachrichten und den Browserverlauf."
Frauen* beraten Frauen*: 0043 1 587 67 50
Hier geht es zur anonymen Onlineberatung - ohne sichtbare Spuren: Verein Frauen beraten Frauen
Frauenhelpline (rund um die Uhr, kostenlos): 0800 222 555
Männernotruf (rund um die Uhr, kostenlos): 0800 246 247
Rat auf Draht: 147
Autonome Frauenhäuser: 01/ 544 08 20
Polizei-Notruf: 133
Warum? Weil wohl keine Beziehung entsteht, wenn schon beim ersten Date die Fäuste fliegen. Deshalb testen Gewalttäter aus, wie weit sie gehen können und beginnen mit - wenn man es so nennen möchte - kleinen Sticheleien. "Beleidigungen, Demütigungen, Beschimpfungen, Entwertung und Drohungen. Bereits bei dieser ersten Stufe von Unbehagen sollte sofort eine Beratungsstelle aufgesucht oder mit einer anderen Person darüber gesprochen werden. Hauptsache, die Isolation von der Außenwelt wird durchbrochen."
„Beleidigungen, Demütigungen, Beschimpfungen, Entwertung und Drohungen. Bereits bei dieser ersten Stufe von Unbehagen sollte sofort eine Beratungsstelle aufgesucht werden.“
Wer als Freundin oder Kollegin von Gewalt erfährt, steht häufig unter Schock. Doch der wichtigste erste Schritt ist schlichtes Zuhören, betont die Beraterin. "Frauen erzählen oft von Situationen, die für Außenstehende unglaublich wirken, weil der Partner so charmant erscheint. Aber das Wichtigste ist: Bitte ihr glauben." Druck hilft nicht – im Gegenteil. Betroffene stehen innerlich ohnehin unter enormer Belastung. "Nicht drängen, nicht sofort mit Ratschlägen kommen. Einfach signalisieren: Ich bin da. Ich höre zu. Und wenn du möchtest, helfe ich dir beim Kontakt zu Beratungsstellen."
Viele Betroffene stehen unter strenger Kontrolle des Partners: Handy, Nachrichten, Anruflisten und sogar Browser-Verläufe werden überwacht. Deshalb bietet die Frauenberatung anonym nutzbare Online-Dienste an – ohne E-Mail-Adresse, ohne sichtbare Spuren. "Für stark kontrollierte Frauen ist das ein entscheidendes Tool, um überhaupt erstmals Hilfe holen zu können", so die Expertin. Wichtig sei dabei der private Modus im Browser, um jede Spur zu vermeiden.
„Für stark kontrollierte Frauen ist das ein entscheidendes Tool, um überhaupt erstmals Hilfe holen zu können.“
Ein weit verbreiteter Irrglaube ist, dass Beratung automatisch zu einer Trennung führt. "Natürlich nicht", sagt Zehetner deutlich. "Die Frau entscheidet. Wir entwickeln gemeinsam einen Plan, der für sie passt."
Viele Betroffene verlassen die Beziehung zunächst nicht – ein Fakt, den auch die Statistik spiegelt. Dennoch können Frauen innerhalb einer Beziehung Schutzstrategien entwickeln: klare Signale, Ausweichmöglichkeiten, ein versperrbarer Raum, ein kurzer Spaziergang zur Deeskalation oder ein vertrauter Notfallkontakt. Allein die Tatsache, dass eine Frau Hilfe sucht, kann Wirkung zeigen. "Wenn ein Täter weiß, dass die Frau Beratung in Anspruch nimmt, ist er manchmal schon etwas eingebremst."
Programme wie Anti-Gewalt-Trainings für Männer existieren zwar, doch die Realität ist ernüchternd: "Nur rund fünf Prozent der Männer, von denen wir hören, sind bereit, sich selbst als Teil des Problems zu sehen." Viele schieben der Partnerin die Schuld zu – sie sei "lästig", "provokant" oder "verrückt". Sie fordern Therapie für die Frau, statt Verantwortung für ihr eigenes Verhalten zu übernehmen.
Die Ursachen für Gewalt an Frauen liegen tief – in gesellschaftlichen Strukturen. "Feministische Forschung zeigt klar: Gewalt gegen Frauen entsteht in einer patriarchalen Grundhaltung." Dazu zählen ökonomische Abhängigkeit, traditionelle Rollenbilder und ein verinnerlichtes Besitzdenken: Der Mann als Entscheider, die Frau als Untergeordnete. Auch emotionale Erziehung spielt eine Rolle. Männer lernen häufig, Wut auszudrücken – aber nicht Trauer oder Verletzlichkeit. "Wenn Männer Gefühle nicht zeigen dürfen, verwandeln sie diese oft in Aggression."
„Gewalt gegen Frauen entsteht in einer patriarchalen Grundhaltung.“
Und auch trotz moderner Erziehung werden junge Männer heute massiv über soziale Medien beeinflusst. Frauenfeindliche Inhalte, etwa von Influencern wie Andrew Tate, landen ohne große Umwege in ihren Feeds. Auch Trends wie "Tradwives", die Frauen als glückliche, gehorsame Hausfrauen idealisieren, sorgen für problematische Rollenbilder. "Viele übersehen, dass diese Influencerinnen im Hintergrund selbst hochprofessionelle Markenimperien führen. Doch zahlreiche junge Frauen nehmen die Botschaft wörtlich – und laufen Gefahr, in Abhängigkeit zu geraten."
Neutralität gibt es bei Gewalt nicht, betont die Expertin. "Wenn ich mich raushalte, werde ich zur Mittäterin. Wir müssen als Gesellschaft klar signalisieren: Gewalt hat Konsequenzen. Niemand kommt damit durch."
Das Problem ist vielfältig – kulturell, gesellschaftlich, erzieherisch. Doch die Verantwortung liegt beim Täter, niemals beim Opfer. Jede Frau kann betroffen sein. Umso wichtiger ist es, dass Nachbarinnen, Freundinnen und Kolleginnen wissen, wie sie unterstützen können: zuhören, glauben, da sein – und professionelle Hilfe vermitteln.