In Amerika und Frankreich wird mitten im Sommer ordentlich der Nationalfeiertag gefeiert. Der Tag der Deutschen Einheit (3.10.) fällt aber wie auch der österreichische Nationalfeiertag in den Herbst. Da sind die Urlaubstage schon aufgebraucht, es wird früher finster und die dunkle Jahreszeit steht vor der Tür. Düstere Voraussetzungen für ausgelassene Feierstimmung.
Heuer ist die Stimmungslage in Deutschland besonders angespannt – so sieht es zumindest der Psychologe Stephan Grünewald. In seinem Buch "Wir Krisenakrobaten – Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft", das am 9. Oktober erscheint, analysiert er die Lage. Grünewald greift dabei auf Studien des Kölner Rheingold-Instituts und auf tiefenpsychologische Interviews zurück.
"Wir stellen fest, dass seit der Corona-Zeit die Bedeutung der Jahreszeiten zugenommen hat", sagt Grünewald nun zu NTV. "In der Corona-Zeit war der Sommer immer eine Zeit der Befreiung, in der die Lockdowns aufgehoben wurden und man wieder nach draußen konnte. Jetzt, angesichts von Dauerkrisen, öffnet der Sommer ein Fenster der Selbstvergessenheit. Man fährt in den Urlaub, schiebt die Sorgen weg, verwöhnt sich." Doch dann ist der Alltag wieder da: "Mit dem Herbst haben wir den Einbruch der düsteren Probleme und Drohkulissen."
Corona, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Teuerung, Rezession und eine marode Infrastruktur – viele Menschen fühlen sich durch diesen dauerhaften Krisenzustand ohnmächtig, wie Grünewald feststellt. "Das führt dazu, dass man sich ins private Schneckenhaus zurückzieht und zwischen der eigenen Welt und der bedrohlichen Außenwelt einen Verdrängungsvorhang spannt. Diese Minimierung des Gesichtskreises führt zu einer Maximierung der persönlichen Zuversicht."
Umfragen, unter anderem vom Allensbach-Institut, zeigen: Die meisten schätzen ihre eigene Lage als eher positiv ein, während sie für den Staat und die Gesellschaft schwarzsehen.
Als Reaktion auf die Dauerkrise versuchen viele Deutsche, eine Normalität heraufzubeschwören, die es so gar nicht mehr gibt. Sie richten sich, so Grünewald, in einer Art Nachspielzeit ein und klammern sich an das Alte und Vertraute. Das sehe man auch am Retro-Trend im Fernsehen: Serien und Filme holen die Geborgenheit der 70er und 80er Jahre zurück. Grünewald meint: "Der Blick in den Rückspiegel kaschiert eine diffuse Endzeitstimmung."
Dazu kommt laut dem Psychologen eine "starke Abschottung in Meinungs-Silos": "Unsere private Streitkultur ist praktisch zum Erliegen gekommen. Stattdessen – und das haben wir in vielen Tiefeninterviews gehört – sortieren die Menschen im Bekanntenkreis all diejenigen aus, die eine andere Meinung haben." Das sei Gift für die Demokratie.
Symptomatisch: Auch Popstar Nina Chuba verriet kürzlich, dass sie mit einem Teil ihrer ostdeutschen Familie gebrochen habe, "weil sie politische Haltungen vertreten, für die ich nicht stehe."
Zum Tag der Deutschen Einheit merkt Grünewald an, dass die Nation in einer tiefen Verbundenheitskrise steckt. In einer Rheingold-Studie gaben zuletzt 89 Prozent an, dass die Gesellschaft entzweit ist – von Einheit also keine Spur.
Im Buch beschreibt Grünewald, wie die Corona-Pandemie die Gesellschaft spaltete: in Maskenträger und Maskenverweigerer, Team Vorsicht und Corona-Relativierer. Aus einer unsichtbaren Gefahr wurde plötzlich ein sichtbarer Gegner – ein Muster, das sich jetzt in anderen Bereichen fortsetzt.
"Heute spaltet sich die Wirklichkeit je nach Perspektive auf in "grüne Spinner" und "radikale Rechte", in SUV-Besitzer und Fahrradfahrer, in Ossis und Wessis, in Veganer und Fleischesser, in "die da oben" und "wir da unten". Polarisierung wirke hier wie ein verzweifelter Ordnungsversuch: "Sie schafft Fronten, stärkt den inneren Zusammenhalt im eigenen Lager - und macht die andere Seite zum Sündenbock."
Die Hauptaussage in Grünewalds Buch ist, dass dadurch eine "gestaute Bewegungsenergie" entsteht. Die Deutschen hätten eigentlich genug Kraft, um Probleme anzupacken – aber diese Energie bleibt blockiert.
"Der Dauerzank in der Ampel hat das Gefühl genährt, dass die Politik sich im Bruderzwist aufreibt und nicht mehr Herr der Lage ist. Und jetzt wiederholt sich das ansatzweise bei der schwarz-roten Koalition, weil man da den Eindruck hat: Die verhaken sich auch. Lachender Dritter ist die AfD."
Grünewald findet, dass Bundeskanzler Friedrich Merz und andere Politiker ehrlich sagen sollten, wie dramatisch es etwa um die Pensionen oder die militärische Verteidigung steht. Und sie müssten der Bevölkerung auch etwas abverlangen.
"Die Bürgerinnen und Bürger spüren unterschwellig, dass sie nicht immer nur Tischlein-deck-dich und Goldesel bekommen können, sondern dass irgendwann auch mal der Knüppel aus dem Sack raus muss. Das heißt: Es wird nicht ohne Härten abgehen."
Grünewald sieht eine große Sehnsucht nach gemeinschaftlichem Handeln. Das letzte Mal, dass das wirklich funktioniert hat, war für ihn die Reduzierung des Energieverbrauchs im ersten Winter des Ukraine-Kriegs 2022/23.
"Da gab es ein klares, sinnvolles Ziel, zu dem jeder Einzelne beitragen konnte. Und es ging gerecht zu, weil man wusste: Der Nachbar stellt auch die Heizung niedriger, die Industrie fährt die Produktion runter, und die Regierung kümmert sich derweil um LNG-Terminals."
Nur davon zu reden, dass man Deutschland zukunftssicher machen will, ist Grünewald zu wenig konkret. "Es muss heruntergebrochen werden auf klare Projekte, mit denen eine Handlungsdirektive verbunden ist. Das ist eine große Herausforderung. Aber denken wir an die Flutkatastrophe von 2021: Wenn die Notwendigkeit zu solidarischem Handeln wirklich greifbar wird, dann ist enorme Kraft und Hilfsbereitschaft vorhanden."
Natürlich muss man dafür zuerst die Komfortzone verlassen, das bringt Widerstand mit sich. "Aber wenn man dann dabei bleibt, überwiegt das befreiende Gefühl, dass die gestaute Energie freigesetzt wird, und man merkt: Aha, ich bin an einem großen Projekt beteiligt. Und dann ist man nicht nur stolz auf das Land, sondern auch auf sich selbst."