ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) ist zwar keine neue Erkrankung, aber erst durch die Coronapandemie ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Seither ist die Zahl von Betroffenen rasant gestiegen. Aus internationalen Daten abgeleitet, schätzt die MedUni Wien, dass es in Österreich 70.000 bis 80.000 ME/CFS-Betroffene gibt, die das Hauptsymptom PEM – Post-Exertional Malaise aufweisen. Etwa 20 Prozent davon sind schwer oder sehr schwer betroffen.
Eine von ihnen ist Brigitte M. (Name von der Redaktion geändert; Anm.). Im Juli 2022 erkrankte die damals 30-jährige Niederösterreicherin an Corona – mit hohem Fieber (bis 40 Grad), starker Abgeschlagenheit und ausgeprägten Ohrenschmerzen. Weil damals noch die Quarantäneregelung gilt, muss sie als Infizierte die Erkrankung daheim auskurieren.
Leider helfen die Schmerzmittel aus der Hausapotheke nicht, also ruft sie Haus- und HNO-Arzt an. Trotzdem darf sie, solange sie in Quarantäne ist, nicht in die Ordination kommen. Die Schmerzen werden immer schlimmer – bis sie aus lauter Verzweiflung ins Spital fährt. Mit FFP2-Maske darf sie in die Ambulanz kommen. Die Ärzte diagnostizieren eine beidseitig weit fortgeschrittene Mittelohrentzündung, verschreiben ihr Antibiotika und Schmerzmittel und entlassen sie wieder nach Hause. Da die Mittel kaum Wirkung zeigten, suchte Brigitte nach dem Ende der Quarantäne ihren Hausarzt auf. Der verschreibt ihr Kortison, weil die Ohrenentzündung nach wie vor besteht.
Die Ohrenentzündung hinterlässt bei Brigitte einen Gehörschaden, der bis heute anhält. Aber nicht nur das. Es kommen Wortfindungsstörungen und Gedächtnisprobleme dazu. Ihr ganzer Körper schmerzt, sodass sie es nicht mal mehr zum Postkasten schafft. Auch ihre zwei kleinen Kinder, damals 3 und 5 Jahre alt, kann sie nicht beaufsichtigen. Ihr Mann arbeitet am Bau, also helfen Brigittes Eltern bei der Bewältigung des Alltags.
Weil ihre körperliche Belastbarkeit immer weiter abnimmt, vermutet Brigitte ein Herzproblem. Der Kardiologe sieht jedoch keinen Hinweis darauf und überweist sie zum Neurologen. Dieser stellt schließlich die Diagnose ME/CFS. Eine Erkrankung, von der die junge Frau zuvor noch nie etwas gehört hatte. Der Neurologe rät ihr, sich eine Pulsuhr zu kaufen und mittels sogenanntem "Pacing" ihre individuelle Belastungsgrenze herauszufinden und sich darüber hinaus nicht zu verausgaben.
Long Covid bezeichnet Beschwerden, die wenigstens vier Wochen nach der Infektion bestehen
Post Covid bezeichnet Beschwerden, die wenigstens zwölf Wochen nach der Infektion bestehen.
ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) ME/CFS ist eine eigenständige schwere Multisystemerkrankung. Das Hauptmerkmal der Erkrankung ist die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM), eine ausgeprägte, teils sofortige oder auch zeitverzögerte Verschlechterung des Gesundheitszustands nach körperlicher oder kognitiver Anstrengung, die mindestens sechs Monate andauert. Betroffene sprechen auch von einem "Crash". Diese Zustandsverschlechterung kann über Tage, Wochen oder sogar dauerhaft anhalten.
Die genauen Ursachen von ME/CFS sind bislang nicht vollständig geklärt. Aktuelle Forschung weist jedoch auf eine komplexe Fehlregulation des autonomen und zentralen Nervensystems, des Immunsystems sowie des Energiestoffwechsels hin.
Für Betroffene bedeutet das einen stark eingeschränkten Lebensalltag und ein Symptomkomplex, der sich durch normale Erholungsphasen nicht bessert. Abhängig vom Schweregrad ist die Bewältigung alltäglicher Aufgaben für Betroffene nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich.
Keine neue Krankheit
ME/CFS ist keine neue Krankheit (seit 1969 von der WHO als Krankheit klassifiziert), aber die Corona-Pandemie hat als neuer Auslöser zu einem sprunghaften Anstieg der Fälle geführt. ME/CFS tritt nach akuten Viruserkrankungen auf, zum Beispiel Covid-19, Influenza oder durch das Epstein-Barr-Virus ("Pfeiffer'sches Drüsenfieber").
Krankheitsverläufe können unterschiedlich sein, sich verbessern und/oder verschlechtern.
Brigitte ist sechs Monate im Krankenstand, verliert währenddessen ihren Job als Ordinationshilfe und ist infolge auf Reha-Geld angewiesen. Dafür muss sie persönlich bei der ÖGK vorstellig werden und ihre Befunde mitbringen. Was dann folgt, ernüchtert die Niederösterreicherin. Trotz ihrer Befunde glaubt man Brigitte dort nicht, dass es ihr noch immer schlecht geht, denn Long Covid dauere nicht länger als 6 Monate. Ab diesem Zeitpunkt muss Brigitte einmal im Monat zur ÖGK-Chefärztin zur Überprüfung, ob der Krankenstand noch gerechtfertigt ist.
Im Rahmen der sogenannten "Mitwirkungspflicht" muss Brigitte Auflagen erfüllen, um weiterhin Geld zu bekommen. Eine Reha ist Teil der ÖGK-Auflagen, die sie – entgegen dem Ratschlag ihres Neurologen – antritt. Das Problem: Es handelt sich um eine sogenannte aktivierende Reha für Long-Covid-Patienten, was für ME/CFS-Patienten absolut kontraproduktiv ist – so auch bei der Niederösterreicherin. Nach einem Jahr zweimal pro Woche Kraft- und Ergometer-Training geht es Brigitte immer schlechter. Immer öfter muss sie Einheiten ausfallen lassen. "Es folgte ein Crash nach dem anderen." Ein großes Risiko, denn jeder Crash kann den Allgemeinzustand dauerhaft verschlechtern. Schließlich geht es Brigitte nach der Reha schlechter als zu Beginn. "Ich konnte mich nicht mal mehr duschen."
„Ich weiß gar nicht mehr, wie sich ein gesunder Körper anfühlt, weil ich seit 2022 Schmerzen habe.“Brigitte, 32ME/CFS-Betroffene
Seit Sommer 2023 erlebt Brigitte die Auswirkungen von ME/CFS als schwerwiegend. "Zu mehr als Körperpflege und Essen war ich nicht imstande." Ihren damals schlimmsten Zustand beschreibt sie so: "Man schläft nicht, ist aber auch nicht wach. Der ganze Körper schmerzt. Bei mir kamen massive Herzrhythmusstörungen und Herzrasen und der Tinnitus dazu." Vorhofflimmern bringt die junge Frau schließlich ins Universitätsklinikum St. Pölten. Die Reaktion der Ärzte auf das EKG fällt zögerlich aus. "Sie konnten das EKG nicht einordnen." Man könne ihr nicht helfen, heißt es. Sie wird nach Hause entlassen.
Erst ein spezielles Medikament zur Behandlung des Mastzellaktivierungssyndroms hilft Brigitte als es ihr am schlechtesten geht. Das Mastzellaktivierungssyndrom tritt bei ME/CFS-Betroffenen häufig zusätzlich auf. Es ist eine Multisystemerkrankung mit einer entzündlich-allergischen Symptomatik, die durch eine Überaktivität von Mastzellen ausgelöst wird und eine Reihe an Symptomen verursachen kann.
Auch die Behandlung ihrer Begleiterkrankungen erfordert eine medikamentöse Einstellung. Erst nach der Behandlung der Komorbiditäten kann Brigitte einzelne Symptome etwas besser kontrollieren, doch die Krankheit bleibt schwerwiegend und prägend für ihren Alltag.
Seither nimmt Brigitte sieben Medikamente pro Tag: fürs Herz, wegen des Mastzellaktivierungssyndroms, Blutverdünner und Nahrungsergänzungsmittel. Diese Kombination ermöglicht ihr einen bewältigbaren Alltag, mit regelmäßigen Pausen. Ihre Aufenthalte außer Haus sind limitiert. Viel wird online gekauft. Arbeitsunfähig ist Brigitte nach wie vor. Weil das Reha-Geld jedoch zeitlich befristet ist, ist Brigitte verpflichtet, der ÖGK vierteljährlich aktuelle Befunde und eine Bestätigung der Therapie zu übermitteln. Während des Bezugs von Reha-Geld ist das AMS rechtlich nicht befugt, Brigitte in irgendeiner Form zu betreuen, obwohl sie gleichzeitig verpflichtet ist, sich um eine Arbeitsaufnahme zu bemühen. "Ich habe einen Behinderungsgrad von 70 Prozent, weshalb ich nicht jeden Job machen kann. Ideal wären zwei Stunden am Tag mit Pausen im Homeoffice – ohne Bildschirmarbeit, weil das meine Migräne triggert."
Seit 2022 hat Brigitte rund 30.000 Euro an Gesundheitskosten für eine extra Kinderbetreuung, Wahlarzt sowie Laboruntersuchungen, aufgewendet. Alleine die Medikamentenkosten waren 500 Euro pro Monat, weil sie ihre Arzneien bis dahin aus eigener Tasche zahlen musste. Das hat sich seit diesem Jahr gebessert. Denn bei ME/CFS und postakuten Infektionssyndromen (PAIS) wie z.B. das Post-COVID Syndrom werden bestimmte Medikamente nun von der ÖGK übernommen. Die Rezeptgebühr ist weiterhin vom Patienten zu zahlen – außer, es besteht eine Befreiung.
Welche Medikamentenkosten übernommen werden, steht in DIESER Liste. Personen, die nicht bei der ÖGK versichert sind, sollten sich mit ihrer Versicherung in Verbindung setzen.
Aktuell lebt die 4-köpfige Familie vom Bauarbeiter-Gehalt des Mannes und mit Brigittes Reha-Geld. Auch ihr Mann trägt maßgeblich dazu bei, den Familienalltag aufrechtzuerhalten. Zusätzlich zu seiner Arbeit übernimmt er den gesamten Haushalt und kümmert sich um die Kinder – all das, was Brigitte nicht mehr leisten kann. "Ich habe aufgrund meiner Schmerzen seit Sommer 2022 keine einzige Nacht mehr durchgeschlafen."
Dennoch ist Brigitte dankbar, dass sie nun eine medizinische Versorgung gefunden hat, die ihren Zustand zumindest etwas stabilisiert, auch wenn ihr Leben nach wie vor stark eingeschränkt ist. Sie engagiert sich in der ME/CFS-Selbsthilfegruppe im Dachverband NÖ Selbsthilfe und ist Mitglied bei der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS.