"Wie eine Tsunamiwelle" rollen die russischen Angreifer auf die ukrainische Stadt Pokrowsk zu, sagt Oberst Markus Reisner in seiner aktuellen Lageeinschätzung auf "n-tv" am Montag: "Die ukrainischen Truppen sind dort bereits abgekämpft und sehr ausgedünnt. In den letzten beiden Monaten haben die Russen etwa 15 bis 20 Quadratkilometer pro Tag erobert." Dort, im Donbass, setzten die russischen Generäle weiter den Schwerpunkt ihrer Offensive.
Insgesamt fünf Städte laufen gerade in Gefahr, von Wladimir Putins Armee eingekesselt zu werden: Kupjansk, Siwersk, Kostjantyniwka, Pokrowsk und Nowopawliwka.
Reisner: "Vor allem nordöstlich von Pokrowsk gewinnen die Russen immer mehr Raum." Die Front hänge hier deutlich über (siehe Grafik unten), was für die Verteidiger in der Stadt zu einer akuten Bedrohung werde.
Auf der Landkarte sähen die russischen Vorstöße aus "wie die Zähne einer Säge", erklärt der Bundesheer-Offizier das Vorgehen: Angriffe aus mehreren Richtungen, den Flanken, aus der Tiefe, um den Gegner zu überfordern und die Versorgungslinien abzuschneiden. "Das ist ein Grundprinzip, an dem die Russen über die letzten Jahre festgehalten haben. Gefühlt dauert das sehr lang, aber nach zwei, drei, vier Monaten sehen Sie das Ergebnis."
Reisner spricht auch eine unbequeme Wahrheit an: "Wir schauen auf die Karte und denken: Da tut sich nicht viel. Aber wenn wir den Frontverlauf im Zeitraffer betrachten, allein vom letzten Sommer bis heute, dann wird deutlich, wie groß die russischen Vormärsche tatsächlich sind. Die russischen Geländegewinne summieren sich, die ukrainischen Soldaten werden immer weniger."
Wer sich aus der Deckung wagt, läuft in Gefahr, innerhalb kürzester Zeit von gegnerischen Drohnen aufgeklärt zu werden. "Das Lagebild beider Seiten ist nahezu lückenlos". Große Rotationen werden so gut wie gar nicht mehr durchgeführt, oft werden nur kleine Trupps, teilweise sogar nur einzelne Soldaten zu Fuß zur Front bzw. wieder zurück geschickt. "Solange man sich auf den eigenen Beinen bewegen kann, funktioniert das relativ gut, zumindest bis die Drohnen das Grüppchen – Nach zehn bis 15 Minuten. Spätestens. – erkannt haben", weiß Reisner.
Das mache auch Verletztentransporte schwierig und gefährlich. Die Ukrainer würden hier vermehrt auf unbemannte Systeme setzen. Sogenannte Unmanned Ground Vehicles (UGV), also Landroboter, können aus sicherer Entfernung gesteuert werden. "Nach der schnellen Entladung wird ein Verwundeter auf den Roboter gelegt und dann fährt der wieder zurück. Wird der fahrende Roboter aber erkannt, hat der Verletzte kaum Chancen, sich zu schützen. Ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht übrigens, einen Verwundetentransport anzugreifen", so der Militärhistoriker.
Nicht zuletzt sei auch das ein Beweis, wie radikal sich das Wesen des Krieges verändert habe: "Bei vielen im Westen ist das noch nicht wirklich angekommen". So würde man im Westen bei Offensiven immer noch an großangelegte, mechanisierte Vorstöße denken. Doch der Krieg in der Ukraine habe heute einen "ganz anderen Charakter".
Dort gehe es darum, den Gegner mit 1000 kleinen Nadelstichen zu zermürben: "Das ist die russische Theorie des Sieges. Die Geländegewinne sind klein, die Verluste sind schwer, aber es ist die Möglichkeit, schlussendlich territoriale Erfolge einzufahren.
Inzwischen haben mindestens 119.154 Russen Wladimir Putins Eroberungspläne mit ihrem Leben bezahlt. So viele sind laut aktueller MediaZona-Zählung namentlich bekannt, die Dunkelziffer dürfte enorm sein – die Verwundeten sind in dieser Zahl gar nicht inkludiert.
Es sind Opfer, die der Kreml bewusst in Kauf nimmt: "Für uns ist eine derartige Herangehensweise unvorstellbar, für die Russen ein Mittel, um ihre Ziele zu erreichen", mahnt Reisner abschließend.