Tausende Kinder in Niederösterreich packen zum ersten Mal nach den Sommerferien – oder zum allerersten Mal überhaupt – diese Woche ihre Schultaschen. Doch einige Hundert bleiben zu Hause: Sie machen "Homeschooling" und bilden sich unter anderem am Esstisch oder bei Wanderausflügen weiter.
Für gewöhnlich betrifft Homeschooling nur eine kleine Minderheit. Laut Bildungsministerium befanden sich im Schuljahr 2023/2024 etwa 770 niederösterreichische Kinder in häuslichem Unterricht – in ganz Österreich waren es im gleichen Zeitraum 1.800 Kinder. Zum Vergleich: Im ersten Schuljahr während der Corona-Pandemie (2021/22) schnellte diese Zahl auf über 7.500 hoch. Niederösterreich gilt mit mehreren Hundert Fällen als Schwerpunkt-Bundesland.
Die Regeln sind streng: Eltern müssen bis Ende Juni ihre Kinder von der Schule abmelden. Die Bildungsdirektion prüft die Gleichwertigkeit des Unterrichts, und am folgenden Schuljahresende sind Externistenprüfungen in allen Pflichtfächern vorgeschrieben. Seit 2022 gibt es zusätzlich verpflichtende Reflexionsgespräche im Februar, in denen Kinder nach ihrem Wohlbefinden gefragt werden.
Wer Prüfungen im Juni verweigert, verstößt gegen die Schulpflicht – mögliche Konsequenzen sind Verwaltungsstrafen oder im Extremfall sogar der Obsorge-Entzug. Oft betrifft das "Unschooling", bei dem Kinder nur reaktiv unterrichtet und auf ihre Fragen hin belehrt werden. Sträubt sich ein Kind vor dem Lesen- oder Schreibenlernen, würde es bei Unschooling in strikter Ausführung nicht dazu gebracht werden.
Eine, die diesen Weg seit Jahren begleitet und mit ihren Kindern selbst durchlebt, ist die Psychologin und Pädagogin Barbara Effenberg aus Mödling. Sie hat die "Freikinderei" gegründet, organisiert Seminare und Exkursionen für Kinder und Eltern und forscht derzeit an der Uni Wien zum Thema häuslicher Unterricht. "Für Kinder mit Autismus, Hochbegabung oder anderen besonderen Bedürfnissen kann es ein Rettungsanker sein, wenn das Schulsystem nicht passt", sagt Effenberg im "Heute"-Gespräch.
Im Unterricht außerhalb der Schule würden Kinder schneller, effizienter und bedürfnisorientierter lernen, meint sie: "Häuslicher Unterricht ist nicht perfekt, aber Schule ist es noch weniger. Im häuslichen Unterricht kommen viel mehr Methoden zum Einsatz als in der Schule. Mit der 1:1-Betreuung kommen auch die meisten Familien mit ein bis zwei Stunden Beschäftigung mit Lehrplan-Inhalten aus. Ein Lehrer ist hauptsächlich da, um 25 Kinder gleichzeitig zu unterrichten. Da dauert das Lernen natürlich länger."
Als Mutter zweier Homeschool-Kinder beschreibt Effenberg den Alltag vieler Familien so: Lernen finde im eigenen Tempo statt, mit digitalen Tools, Projekten, Ausflügen oder Museumsbesuchen. Es gäbe keinen festen Stundenplan: "In den meisten schulfreien Familien gibt es keine Wecker. Allein durch den Wegfall des Schulwegs gewinnen die Kinder eine Stunde pro Tag. Und sie haben oft mehr Zeit für Vereine und Freundschaften." Die Pädagogin beschreibt, dass viele Kinder sogar vor ihren Eltern aufstehen, um beispielsweise schon vor sieben Uhr morgens an Elektromotoren zu basteln oder Wachteln füttern.
Effenberg betont zudem, dass die meisten Familien mit häuslichem Unterricht die gesetzlichen Vorgaben einhalten: "Fast alle treten zu den Externistenprüfungen an." Gleichzeitig grenzt sie sich klar von radikalen Freilerner-Gruppen ab, die Prüfungen verweigern oder Kinder von Lesen, Schreiben und Rechnen fernhalten.
"Homeschooling" sei unbedingt vom "Unschooling" zu unterscheiden, sagt Barbara Effenberg und sieht manche Formen des Heim-Unterrichts durchaus kritisch: "Ich bin eindeutig eine Homeschooling-Mama. Homeschooling ist (relativ) freies Lernen. Unschooling bezeichnet die Umgewöhnung von der Schule auf freies Lernen. Jene prüfungsverweigernden Freilerner, die ich kenne, haben definitiv das Vertrauen in das Schulsystem und teilweise auch in den Staat verloren und bestärken sich gegenseitig darin."
"Bildung ist hier nicht von Ideologie getrennt", fasst Effenberg das zusammen. Natürlich würden Externistenprüfungen von solchen Menschen abgelehnt werden: "Diese Skepsis ist meist eine Mischung aus schlechten Erfahrungen und Gleichgesinnten, die sich in ihren Ansichten verstärken und bestärken. Es herrscht starke Abgrenzung vom Bildungssystem und große Ablehnung, die an die Kinder weitergegeben wird."
Die Bildungsdirektion Niederösterreich verweist darauf, dass die Entscheidung bei den Eltern liegt: "Nahezu alle Schülerinnen und Schüler, die zu Hause unterrichtet werden, treten zu den Externistenprüfungen an", heißt es in einer Stellungnahme gegenüber "Heute". Von einem Anstieg könne aktuell keine Rede sein, denn die Zahlen seien seit Jahren stabil. Den Begriff Unschooling kenne man nicht, heißt es seitens der Behörde.
Zurück in Mödling: Effenbergs Wunsch ist weniger Misstrauen gegenüber häuslichem Unterricht und weniger Schubladendenken: "Österreich muss sich mit häuslichem Unterricht nicht verstecken. Er ist selten, aber für manche Kinder die einzige funktionierende Option."