Sozialreformen der Länder

"Wer zahlt weniger" – Kritik an "Kürzungs-Wettlauf"

Experten fordern im Zuge der Reform der Sozialhilfe eine effektive Bekämpfung der Armut in Österreich – anstatt Arme zu bekämpfen.
Aram Ghadimi
16.11.2025, 07:00
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"Die Hälfte hat chronische Krankheiten, mehr als die Hälfte ist bereits in Pension und ein Fünftel aller Betroffenen sind Menschen mit Behinderung oder schweren psychischen Erkrankungen", fasst die Armutskonferenz zusammen. Diese Zahlen stammen, aus dem am Mittwoch veröffentlichten Sozialhilfedaten-Bericht der Statistik Austria – und lassen bei Experten die Alarmglocken schrillen.

"Gefährlicher Wettlauf"

"Zwischen den Bundesländern ist ein gefährlicher Wettlauf entstanden: Wer zahlt am wenigsten und schließt am effizientesten Menschen aus", fasst die Armutskonferenz die aktuelle Lage in Österreich zusammen. Während über die Budgets von Bund und Ländern gestritten wird, richtet ein breiter Zusammenschluss aus über 40 sozialen Organisationen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen jetzt einen deutlichen Appell an die Politik: "Wir müssen die Armut bekämpfen, nicht die Armen."

Kinderarmut gestiegen

Bereits letztes Jahr hatte "Heute" bereits über die triste Lage berichtet: "In Österreich – einem der reichsten Länder der Welt – ist jedes fünfte Kind von Armut gefährdet. In Zahlen: Über 350.000 Kinder und Jugendliche wachsen so auf", fasste die Armutskonferenz zusammen. Ein zunehmendes Problem, denn die Armut nagt auch immer mehr an der sogenannten Mittelschicht: 2024 waren um rund 130.000 Menschen mehr von absoluter Armut betroffen als noch zwei Jahre davor.

Unterschiedlichste Gründe

Immer mehr Menschen kämpfen in Österreich um ihre Existenz – "Heute" hat in der Vergangenheit über zahlreiche Fälle berichtet: Jasmin Bleier (Name geändert) etwa kann – als fünffache Mutter und einem behinderten Kind zu Hause – kaum noch die Lebenshaltungskosten ihrer Familie decken. Der Wegfall des Antiteuerungsbonus verschärfte ihre Lage zusätzlich.

Und die 38-jährige Sandra K. leidet seit ihrer Kindheit an einer chronischen Krankheit – "in Niederösterreich eine Armutsfalle", wie sie sagt: "Kaum jemand kann sich vorstellen, was es bedeutet, seit der Schulzeit dauerhaft schwer krank zu sein und dann auch noch jahrelang um staatliche Unterstützung zu kämpfen." Behörden rieten ihr, die eigenen (ebenfalls in Armut lebenden) Eltern auf Unterhalt zu klagen.

Reform in Niederösterreich

Am 4. November verkündete Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner "die österreichweit strengste Sozialhilfe weiter verschärft" zu haben – als Beitrag zur "Fairness gegenüber der arbeitenden Bevölkerung und um dem Sozialhilfe-Missbrauch einen Riegel vorzuschieben". Die NÖ Landesregierung hatte am selben Tag eine Novelle des NÖ Sozialhilfe-Ausführungsgesetzes beschlossen.

Sozialhilfe-Empfänger, die eine zumutbare Arbeit ablehnen, müssen in Niederösterreich künftig damit rechnen, dass ihre Sozialhilfe mindestens für drei Monate halbiert wird. Jede weitere Pflichtverletzung verlängert diese Kürzung um jeweils vier Wochen.

Mehr als die Hälfte kann nicht arbeiten

Demgegenüber sagen die Experten aus den unterschiedlichen Hilfsorganisationen, dass der "Großteil der Bezieher von Sozialhilfe, rund 57 Prozent, gar nicht arbeiten kann: Weil sie bereits in Pension sind, eine chronische Erkrankung oder eine Behinderung haben, Kinder und Angehörige pflegen – oder selbst Kinder sind."

"In der öffentlichen Debatte kommen all die Menschen jedoch nicht vor", mahnt jetzt die Armutskonferenz. Nur wenige Tage vor der Gesetzesnovelle in Niederösterreich warnte der stellvertretende Direktor der Diakonie Österreich, Sozialexperte Martin Schenk vor einem "alten Trick": Ständig werde von Flüchtlingen oder Arbeitsunwilligen gesprochen, doch "gekürzt wird dann in Wirklichkeit bei allen, bei den Behinderten und Kranken. Das kennen wir schon von der Abschaffung der Mindestsicherung in Niederösterreich."

Ein Drittel könnte, 8 Prozent arbeiten

Wie die aktuellen Zahlen der Statistik Austria zeigen, steht potenziell nur ein Drittel der Menschen in Sozialhilfe (35 Prozent) dem Arbeitsmarkt zur Verfügung und kann arbeiten – vorausgesetzt es findet sich ein Job. Weitere acht Prozent arbeiten bereits, doch "ihr Job ist aber derart miserabel bezahlt, dass ihr Einkommen nicht zum Leben ausreicht und sie Zuzahlungen aus der Sozialhilfe brauchen", kommentiert das die Armutskonferenz.

Zur wachsenden Gruppe der Ärmsten gehören weit mehr Menschen, als jene, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Laut Volkshilfe gibt es in Österreich aktuell 1,5 Millionen armutsgefährdete Menschen – das entspricht 17 Prozent der Bevölkerung. Alleine in Wien sind schon 400.000 Menschen betroffen. Grundsätzlich gilt: Als armutsgefährdet gelten Personen, die weniger als 1.661 Euro netto pro Monat zur Verfügung haben.

Aktuell leben rund 62.500 Flüchtlinge mit positivem Asylbescheid in Wien und beziehen Mindestsicherung. Die illegalen Aufenthalte sind massiv zurückgegangen: Im Jahr 2024 gab es in ganz Österreich rund 13.170 ausreisepflichtige Nicht-EU-Ausländer – das zeigen Erhebungen der Plattform Statista. Gleichzeitig wurden im selben Jahr 5.792 Abschiebungen durchgeführt, 1.463 davon betrafen Drittstaatsangehörige, wie aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung hervorgeht.

Caritas alarmiert

Aus der Caritas Wien hieß es am vergangenen Dienstag, dass die Zahl Hilfe suchender Menschen zuletzt stark zugenommen hat: "Waren es 2023 noch 8.282 Personen, sind es heute über 10.400 – ein Plus von 26 Prozent. Tendenz steigend." Jede Woche gibt die Caritas über 20 Tonnen gerettete und gespendete Lebensmittel aus. Betroffen sind die unterschiedlichsten Menschen.

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"Verschwiegene Probleme"

Umso wichtiger ist es jetzt, "genau hinzusehen", sagen Experten. Laut Armutskonferenz gibt es nämlich "viele vergessene und verschwiegene Probleme in der Sozialhilfe. Die Soforthilfe funktioniert nicht, es gibt keine klare Definition von Alleinerziehenden, die Wohnkosten sind für immer mehr Menschen nicht tragbar."

Die Liste ist aber noch länger, denn "es fehlen Härtefallregeln, Menschen mit Behinderungen wird ein selbstbestimmtes Leben verweigert, Entscheidungsfristen am Amt sind zu lange und es treten große Mängel im Vollzug auf", fasst die Armutskonferenz zusammen: "Wer von einer Reform der Sozialhilfe spricht, darf zu diesen Missständen in den Bundesländern nicht schweigen."

{title && {title} } agh, {title && {title} } Akt. 16.11.2025, 11:35, 16.11.2025, 07:00
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