Zwei Tage Grado, mehr Urlaub war heuer nicht: Im großen "Heute"-Interview erklärt VP-Kanzler Christian Stocker (65) seine "2-1-0-Formel". Heißt konkret? "2 Prozent Inflation, 1 Prozent Wachstum, 0 Toleranz bei Extremismus." Der Talk:
"Heute": Herr Bundeskanzler, Ihr erster Sommer im Amt. Ich gehe davon aus: Es war schon mal erholsamer…
Christian Stocker: Die Sitzungsroutine hat ein wenig Pause gemacht, der Sommer war dennoch intensiv. Ich habe ihn für viele internationale Begegnungen genützt. Außenpolitik ist in einem Ausmaß Innenpolitik geworden, wie man es manchmal gar nicht vermuten würde. Als Beispiel: Wenn die Grenzen am Balkan dicht sind, haben wir kein Migrationsproblem. Ist das nicht der Fall, haben wir eines.
Ein Problem haben wir auch bei der Teuerung. Sie liegt bei 3,6 Prozent – so hoch wie nirgendwo sonst in Westeuropa – und beschwert die Menschen massiv. Kommt ein Preisgipfel?
Sie haben recht, dass wir mit den Zahlen nicht zufrieden sein können. Die Inflationsrate ist zu hoch, die wirtschaftliche Entwicklung lässt zu wünschen übrig und gleichzeitig stehen wir vor der Situation, dass unsere Demokratie von vielen Seiten angegriffen wird. Meine 2-1-0-Formel für Österreich lautet daher: Die Inflation nächstes Jahr auf 2 Prozent drücken, mindestens 1 Prozent Wirtschaftswachstum erreichen und 0 Toleranz gegenüber allen, die unsere Demokratie gefährden.
Bleibt die ÖVP bei Ihrem kategorischen "Nein" zu Eingriffen in den Markt?
Es gab in vielen Bereichen Eingriffe – etwa bei der Strompreisbremse und jetzt mit dem Sozialtarif für jene, die sich Energie nicht leisten können. Beim Lebensmittelbereich habe ich eine andere Idee.
Welche denn?
Klar ist: Die Preise müssen sinken. Ich bin nicht länger bereit, den Österreich-Aufschlag, den kleine Länder zahlen müssen, zu akzeptieren. Laut Wettbewerbsbehörde zahlen wir derzeit im Supermarkt 8 Prozent mehr als andere.
Das klang bei Ihrem Wirtschaftsminister unlängst noch anders.
Ich glaube, dass er missverstanden wurde. Das hat Wolfgang Hattmannsdorfer auch klargestellt.
„Wir arbeiten am Aufschwung für Österreich. Mein Ziel ist mindestens 1 Prozent Wirtschaftswachstum“Christian StockerBundeskanzler (ÖVP)
Wie wollen Sie die internationalen Lebensmittelkonzerne dazu bewegen, den Aufschlag für kleine Länder zu streichen?
Wir brauchen auf EU-Ebene ein Verbot. Ich werde alle Möglichkeiten, die ich habe, nützen, um das zu erreichen. Wenn der Österreich-Aufschlag nicht abgeschafft wird, dann muss eben der österreichische Rabatt bei bei unserem Beitrag zum EU-Haushalt erhöht werden.
Das klingt alles sehr technisch. Bis wann soll es eine spürbare Entlastung für die Österreicher im Supermarkt geben?
Es muss schnell gehen.
Sozialministerin Korinna Schumann ist unlängst mit einem skurrilen Vorstoß aufgefallen – sie klagt Lebensmittelhändler wegen Rabatt-Aktionen. War das mit Ihnen abgesprochen?
Das war eine Entscheidung der Sozialministerin. Wir werden das Verfahren abwarten. Ich denke aber, dass wir beim Österreich-Aufschlag ansetzen sollten.
Österreichs Wirtschaft stagniert, täglich gehen Unternehmen pleite. Wie sollen wir das Wachstumsziel Ihrer "Stocker-Formel" erreichen?
Wir arbeiten am Aufschwung für Österreich. Mein Ziel ist mindestens 1 Prozent Wirtschaftswachstum. Dafür müssen wir Investitionsanreize setzen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die wir bei der Regierungsklausur besprechen werden. Das kann von Abschreibungen über Investitionsprämien und Freibeträgen bis hin zu Verfahrensvereinfachungen gehen.
Was für Unternehmen wirklich wichtig wäre, ist die Senkung der Lohnnebenkosten. Ist es denkbar, dass sie vorgezogen wird?
Ehrlicherweise sehe ich derzeit den finanziellen Spielraum nicht. Die Maßnahme steht unter Budget-Vorbehalt. Eine Lohnnebenkosten-Senkung von 1 Prozent kostet zwischen eineinhalb und zwei Milliarden Euro.
Die letzte Regierung hat in fünf Jahren 4,3 Milliarden Euro Förderungen an NGOs überwiesen – das förderte eine parlamentarische Anfrage der Freiheitlichen zutage. Sie haben nun eine Taskforce angekündigt. Eine Flucht nach vorne?
Das ist keine Flucht nach vorne, sondern ein nüchterner Blick auf die Tatsachen. Alle Förderungen stehen am Prüfstand. Wenn die Mittel weniger werden, muss die Effizienz des Mitteleinsatzes besonders geprüft werden. Wenn nötig, werden wir den Rotstift ansetzen.
„Wir werden uns bei der Sozialhilfe neu eher nach unten orientieren und sicher nicht nach oben.“
360.000 Menschen sind aktuell ohne Job, 160.000 Stellen laut Stellenmonitor des Wirtschaftsbundes aber offen. "Heute" deckt seit Wochen die Tricks der Arbeitslosen auf. Wie kann man bei Menschen, die nicht arbeiten wollen, die Zügel anziehen?
Man muss hier genau hinsehen. Ich bin auf der Seite jener, die nicht können – und nicht auf der, die nicht wollen. Menschen, die unser System ausnützen, gefährden es für jene, die es benötigen. Ich bekenne mich zu einem Sozialsystem für jene, die Hilfe brauchen – mit dem Ziel, Menschen schnell wieder dazu zu bringen, ihr Leben eigenverantwortlich gestalten zu können.
Die Regierung hat sich eine Reform der Sozialhilfe vorgenommen. Bis wann streben Sie eine bundesweit einheitliche Lösung an?
Wir haben die Thematik im Regierungsprogramm relativ genau abgebildet. Ich stehe dazu, die Koalitionspartner auch. Daher bin ich sehr zuversichtlich, dass die Sozialhilfe vereinheitlicht wird.
Glauben Sie tatsächlich, dass es mit der SPÖ möglich sein wird, dass die Sätze – etwa bei Familien mit mehreren Kindern – sinken?
Wir werden uns eher nach unten orientieren und sicher nicht nach oben.
Sie haben Wien als möglichen Verhandlungsort für Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine ins Spiel gebracht. Glauben Sie ernsthaft, dass Wladimir Putin in ein Land kommt, in dem die Außenministerin in Ukraine-Tracht posiert?
Ich glaube, dass die Entscheidung, wo verhandelt wird, nicht von dieser Frage abhängt. Am wichtigsten ist, dass überhaupt Verhandlungen stattfinden und der Krieg endlich endet. Da bin ich derzeit leider nicht sehr optimistisch. Österreich hat jedenfalls in der Vergangenheit schon oft als Verhandlungsort gedient.
Finden Sie – wie Herbert Kickl harsch kritisiert – dass die Außenministerin die Neutralität Österreichs mit Füßen tritt?
Niemand tritt unsere Nationalität mit Füßen, schon gar nicht die Bundesregierung. Das sind Wortmeldungen, die nur zur Polarisierung beitragen. Wir stehen ganz klar am Boden der Neutralität. Unsere Neutralität war nie eine politische. Neutralität heißt: Keine fremden Truppen auf österreichischem Boden, kein Militärbündnis für Österreich. Aber wir wissen schon, wo Recht und Unrecht liegt.
Das heißt, dass Sie das österreichische Bundesheer niemals in die Ukraine entsenden würden?
Diese Frage stellt sich nicht, weil es kein Mandat gibt.
„Die Umfragen sind, wie sie sind. Ich bin aber überzeugt: Es wird den Turnaround geben.“
Bei Ihrem Amtsantritt wollten Sie auch FPÖ-Wählern ein Angebot machen. Nun haben Sie selbst zwar gute Persönlichkeitswerte, die Freiheitlichen liegen in Umfragen allerdings bei 35 Prozent. Muss man sich nicht schlicht eingestehen, dass die FPÖ in Opposition nicht kleiner zu bekommen ist?
Die Umfragen sind, wie sie sind. Ich bin nicht zufrieden damit, aber überzeugt: Es wird den Turnaround geben. Aber auch zum gesellschaftlichen Zusammenleben möchte ich klar sagen: Null Toleranz gegenüber jenen, die es nicht gut mit uns meinen.
Was meinen Sie damit?
Bei aller rechtlichen Argumentation, die ich akzeptiere: Für mich ist Scharia-Recht zur Streitschlichtung ein No-Go. Das Signal, das gesendet wird, ist ein fatales, weil die Scharia mit unserer Demokratie nicht vereinbar ist. Das ist eine Rechtsordnung für einen Gottesstaat. Für Österreich kann sie daher nicht gelten. Ich trenne hier sehr stark die juristische von der politischen Argumentation. Mein politischer Wille ist, dass wir hier eine ganz klare Linie haben und kein Einfallstor aufmachen.
Herr Bundeskanzler, danke für das Gespräch.