Die jüngste Zerstörung des ukrainischen Neptun-Marschflugkörper-Werfers ist ein deutlicher Beweis, dass die russischen Invasoren militärtechnisch dazulernen. Eine so schnelle Gegenreaktion habe man bisher nur von der US-Aufklärung gekannt, weiß Oberst Markus Reisner. Aber auch die Ukraine macht Fortschritte. Unterstützt wird sie dabei, etwa beim Bau weitreichender Kampfdrohnen, auch von Deutschland.
In den vergangenen Wochen konnte die Ukraine ihre strategische Luftkampagne gegen Russland noch einmal intensivieren. Mit vielen weitreichenden Drohnen wurden Öl-Raffinerien teils weit hinter der russischen Grenze attackiert. Diese explosiven Sanktionen sollen die russische Wirtschaft schwächen und der Treibstoffproduktion einen Dämpfer versetzen.
"Experten gehen bereits von einem Einbruch von zwischen 17 und 21 Prozent der russischen Produktion aus. Das schmerzt die Russen", sagt Reisner im Gespräch mit ntv am Montag. Für die Ukraine geht es darum, für mögliche Friedensgespräche in eine bessere Position zu kommen: "Die Ukraine war [seit dem Vorjahr] eher in der Defensive. Jetzt kann man erkennen, dass sie mit den Drohnenattacken den verheerenden russischen Luftangriffen etwas entgegensetzt."
Dabei könnte auch der neue Marschflugkörper FP-5 Flamingo, den die Ukraine selbst herstellt, zum Einsatz gekommen sein. Dessen Entwicklung sei möglich geworden, weil es im Hintergrund gemeinsame Rüstungsprojekte mit ausgewählten europäischen Staaten gibt, so der österreichische Analyst. Diese würden die Entwicklung verschiedener Waffensysteme deutlich vorantreiben.
Seit Mitte des Sommers ist bekannt, dass Deutschland unterstützend in den Bau ukrainischer Drohnen investiert. So sollen mit dieser Hilfe besonders Kamikaze-Drohnen vom Typ AN-196 Ljutyj (dt. "wütend") hergestellt werden, die jetzt auf Videos von russischen Zivilisten beim Anflug auf Ölraffinerien und Militärstützpunkte zu sehen sind.
Reisner: "Die Berichterstattung über die deutsche Beteiligung am Drohnenbau war aber zurückhaltend. Ich nehme an, dass man versucht hat, das unter der Decke zu halten. Aber es ist ziemlich eindeutig: Deutschland hilft beim Bau von Drohnen, die tief in Russland einschlagen."
Dabei dürfte sich die Ukraine zunehmend von den Amerikanern abnabeln. "Ich bin mir sicher, dass dies im Moment nur teilweise oder gar nicht passiert", antwortet der Heeres-Oberst auf Nachfrage zu möglichen Absprachen solcher Attacken mit den USA. Ein Beweis dafür sei der Angriff auf die Druschba-Pipeline (dt. "Freundschaft"), die Ungarn-Premier Viktor Orban wüten ließ.
US-Präsident Donald Trump sagte in Folge, er sei sehr "wütend" über diese Attacken. Er wurde von ukrainischer Seite zuvor nicht eingeweiht. "Die Ukraine führt diese Angriffe also zum überwiegenden Teil selbstständig durch", betont Reisner. Bei (US-)Waffensystemen wäre Kyjiw jedoch auf die Erlaubnis des Weißen Hauses angewiesen.
"Deshalb ist es so wichtig, die Ukrainer beim Bau weitreichender Drohnen zu unterstützen – weil die Ukraine damit in die Lage kommen, selbstständig und ohne Absprache mit den USA Ziele in der russischen Tiefe anzugreifen. Sie kann somit eigenständig Druck aufbauen."
Sollte es zu einem Friedensschluss kommen, wollen die europäischen Verbündeten mit amerikanischer Unterstützung eine Friedenstruppe für die Ukraine aufstellen. Über das Wie und Was wird nun heftig diskutiert, Gespräche an höchster Stelle sind bereits angelaufen.
Entscheidend sei aber nicht, dass irgendwann europäische Soldaten in der Ukraine stationiert werden, sondern welches Mandat eine solche Friedenstruppe hätte, betont Reisner: "Das Mandat bestimmt, was der Soldat im Einsatzraum tun darf. Vorher muss daher die Frage beantwortet werden: Was lässt der Konsens der Konfliktparteien, die in diesem Krieg involviert sind, zu? Seit Ende des Zweiten Weltkriegs spielt die UN-Charta hier die entscheidende Rolle. Sie bietet die Möglichkeit einer Friedenssicherung durch eine Beobachtungsmission. Die Soldaten können beobachten, ob der Frieden eingehalten wird, dürfen aber, außer in Notwehr, nicht schießen. Die Steigerung davon ist eine Friedensschaffung, die erlauben würde, dass internationale Truppen in einem Konflikt intervenieren und die Konfliktparteien voneinander trennen."
Die Crux: Der Kreml-Kriegstreiber müsste einem solchen Mandat internationaler Truppen zustimmen, lehnt diese aber vollständig ab. "Russland sagt nach wie vor: Sobald die Soldaten einen Fuß auf ukrainischen Boden setzen, werden sie für uns legitime Kriegsziele", weiß der österreichische Beobachter. "Das lässt allen politisch und militärisch Verantwortlichen in den europäischen Hauptstädten die Haare zu Berge stehen. Keiner möchte das Risiko eingehen, Soldaten in die Ukraine zu schicken, die von den Russen angegriffen werden. Ohne die massive militärische Rückendeckung der USA gäbe es wenige, eingeschränkte oder keine Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren."
Doch was Donald Trump tun wird, ist noch völlig unklar. Die bittere Realität: Ohne militärische Rückendeckung der USA hätten europäische Friedenstruppen Russland nichts entgegenzusetzen, warnt Reisner: "Das geht in letzter Konsequenz bis zur Nuklearbewaffnung der Russen als solche. Sicherheitsgarantien oder Friedenstruppen ohne ein – sagen wir – gezogenes scharfes amerikanisches Schwert im Hintergrund sind das Papier nicht wert."
Die Aussichten sind jedenfalls düster: Unter dem sprunghaften MAGA-Anführer seien US-Sicherheitsgarantien "wahrscheinlich nichts" mehr wert. "Er sagt: Es ist nicht mein Krieg [...]. Aus meiner Sicht bedeutet das: Die Ukraine soll nachgeben, die Russen sollen das bekommen, was sie jetzt haben. Punkt. Das ist der einzige rote Faden, der sich bei Trumps Ukraine-Politik durchzieht."
Reisner ist besorgt: "Trumps erratisches Handeln ist eine große Gefahr. Stellen Sie sich vor, die Europäer, die jetzt beginnen, diese Truppen zu sammeln, bekommen dann von Trump gesagt: Das habt ihr gut gemacht, aber wir wollen euch mitteilen, wir haben ab morgen andere Sorgen."